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Eine Gewaltexplosion

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Von: Rüdiger Soßdorf

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Freispruch - das fordert Verteidiger Frank Richtberg für seinen Mandanten. Eine Verurteilung wegen Totschlags - dafür plädiert Rechtsanwalt Dietmar Kleiner. Er vertritt die Witwe des getöteten Gleibergers Helmut G. als Nebenklägerin. G. war nach einem Streit um eine von Werner D. gesteuerte Drohne durch dessen Messer ums Leben gekommen. Am Montag wurden die Plädoyers gehalten.

Ein leises Raunen ging durch den großen Saal 207 am Gießener Landgericht, als Oberstaatsanwalt Thomas Hauburger gestern nach ausführlichen Vorbemerkungen sagte, er sehe am Ende nichts anderes als eine Notwehr-Situation. Und damit sei aus Sicht der Staatsanwaltschaft auch der Messerstich gerechtfertigt gewesen.

Gestern war der sechste Ve rhandlungstag, in dem ein Schwurgericht unter Vorsitz von Richterin Regine Enders-Kunze aufzuarbeiten versucht, was sich am Nachmittag des 29. August 2020 am Gleiberghang abgespielt hat. Dort waren zwei Männer erst verbal, dann handgreiflich in Streit über eine Drohne geraten, die der Angeklagte, Werner D. aus dem Vogelsberg, über eine Pferdekoppel hinweg aufsteigen ließ, um Aufnahmen von der Burg zu machen. Ein Dritter kam hinzu, um seinem Freund zu Hilfe zu eilen. Er erhielt Sekunden später einen Messerstich ins Herz. Trotz Reanimation und Notoperation verblutete er.

Bereits in den vergangenen 14 Tagen waren die Besucherbänke im Saal 207 des Landgerichts gut besetzt. Freunde, Bekannte und Angehörige von Helmut G., dem Opfer, verfolgen den Prozess mit großer Aufmerksamkeit. Denn einer aus ihrem Dorf war plötzlich nicht mehr. Mit 55 Jahren aus dem Leben gerissen durch eine Konfliktsituation, die in weniger als fünf Minuten dermaßen eskalierte, dass drei erwachsene und unbescholtene Männer aufeinander losgingen - und am Ende einer der drei tot war. Oberstaatsanwalt Hauburger sprach gestern von einer »Gewaltexplosion«. Er gebrauchte für die Vorgänge mehrfach die Worte »Tragödie« und »Unverständnis«. Diese beiden Worte seien ihm während des Studiums der Akten und der Verhandlung mehrfach durch den Kopf gegangen.

Warum diese Einschätzung? Hauburger sprach wörtlich von »drei älteren Herrschaften«, von denen zwei sich schon bei der verbalen Auseinandersetzung die Messer zeigten. Das Geschehen habe eine nicht absehbare Dynamik gewonnen - »bei drei anständigen Bürgern fast schon absurd«. »Verrückt«, das ist ein weiteres Adjektiv, mit dem der Staatsanwalt auf die Ereignisse blickt.

Hauburger unterstellt, dass keiner der drei Beteiligten, die das Gericht gehört hat - den Angeklagten, seinen am Konflikt unbeteiligten Begleiter und eben jenen Gleiberger, mit dem der Angeklagte wegen seiner Drohne in der Luft in Streit geraten war - die volle Wahrheit gesagt habe. Da gebe es zum einen Erinnerungslücken. Zum anderen unterschiedliche Interessenslagen, Dinge besonders schlimm oder besonders harmlos darzustellen.

Was die Sache vor allem schwierig macht: Keiner der Zeugen, die das Gericht hörte, hat den eigenen Angaben zufolge den tödlichen Stich gesehen. Mit Ausnahme des Angeklagten. Und so bleibt nicht zweifelsfrei zu klären, was in den wenigen Sekunden geschah, nachdem das spätere Opfer seinem am Boden liegenden und vom Vogelsberger dort fixierten Freund zu Hilfe eilte und den Drohnenpiloten vermutlich mit einem Tritt gegen den Kopf beiseite stieß. Auch dieser Tritt war laut einer Gutachter-Aussage vergangene Woche potenziell lebensgefährdend. Setzte er dann nochmals nach? Dann sei der Messerstich als Notwehr gerechtfertigt gewesen, so der Staatsanwalt. Der Angeklagte hatte angegeben, G sei ihm quasi ins Messer gelaufen, als er die Arme abwehrend gehoben hatte. Auch Hauburger beantragte Freispruch.

Dietmar Kleiner, Rechtsanwalt der Nebenklage, verwies auf Widersprüche in den Aussagen des Angeklagten zum Ablauf des Geschehens, konnte die gestern auch noch untermauern mit Fotos, die der Zeuge vom Gleiberg mit seinem Handy gemacht hatte: Kleiner geht davon aus, dass der Angeklagte dem Opfer das Messer mit erheblicher Wucht in die Brust gestoßen habe; sprach angesichts des (nicht mehr auffindbaren) Messers von einem bedingten Tötungsvorsatz.

Verteidiger Frank Richtberg hingegen zweifelte die Aussagen des Gleibergers an, mit dem der Drohnenflieger zuerst in Streit geraten war. Er nannte den Messerstich in einer Ausnahmesituation in Notwehr gerechtfertigt.

Am morgigen Mittwoch wird Richterin Enders-Kunze das Urteil des Schwurgerichts verkünden und begründen.

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