Ein weiter Weg zur Normalität
Nach der Flutkatastrophe in Westdeutschland im Juli 2021 war die Hilfsbereitschaft auch im Kreis Gießen enorm. Gut ein Jahr später ist das Thema aus den Nachrichten weitgehend verschwunden. Wie ist die Stimmung bei den Menschen vor Ort? Was hat sich inzwischen getan? Ein Besuch in Dernau mit Handwerkern aus Buseck.
Seelenruhig liegt die Ahr in ihrem Bett, grüne Weinberge rahmen das enge Tal ein. Ein Idyll. Doch je näher man den Ortschaften kommt, desto mehr fallen Details auf: abgebrochene Brücken, verrammelte Läden, graue Ruinen.
Herbert Rau lenkt seinen 25-Tonnen-Lkw durch die engen Straßen von Dernau, drei Kollegen folgen in einem zweiten Lkw. Für den 41-Jährigen ist das Ortsbild längst keine Überraschung mehr, er war seit Sommer 2021 häufig hier. Kurz nach der Flutkatastrophe hat Rau, Inhaber der Alten-Busecker Universalbaufirma Rora, ein Netzwerk von Handwerkern aus dem Kreis Gießen gegründet, Spenden gesammelt, Material ins Ahrtal gefahren und dort angepackt. Teils mit seiner gesamten Belegschaft, mitunter bis zur völligen Erschöpfung, wie er berichtet. »Es waren Szenen wie in einem Kriegsfilm«, die ihn an Erzählungen seiner Oma von Bombennächten erinnert haben.
Vor gut einem Jahr war der Eindruck in Dernau eindeutig: einerseits massive Verwüstung, andererseits enorme Hilfsbereitschaft, viele helfende Hände, große Dankbarkeit - und das Versprechen der Politik, schnell und unbürokratisch zu unterstützen. Was ist von alldem geblieben?
Im Ortskern erreichen Rau und seine Leute die erste Baustelle. Wo zurzeit nur Grundmauern stehen, werden sie einen Anbau errichten. »Für uns ist es ein toller Tag, es geht wieder Richtung Aufbau«, sagt der Bauherr. Die Flut habe ihn weniger hart getroffen als andere. »Wir waren am Umbauen, vieles hätte eh so ausgesehen.« Das Paar wohnt in Ahrweiler, will nach der Sanierung hierher in sein Elternhaus ziehen, wo das Wasser im Juli 2021 noch rund 2,40 Meter hoch stand.
Der Mann wirkt zufrieden mit dem bisher Erreichten. »Es hat mit den Hilfsgeldern super funktioniert.«. Aus seiner Sicht ist der Fortschritt spürbar, und zwar in ganz Dernau. Nun gebe es wieder Weinfeste, »und unter der Woche war hier früher auch kein blühendes Leben«. Wo der Wiederaufbau stocke, liege das oft an den Eigentümern, so sein Tenor. »Manche holen sich schon die zweite Auszahlung, bei anderen fragt man sich: Was habt ihr den ganzen Tag gemacht?« Ein Satz auf dem T-Shirt eines Passanten bringt diese Haltung auf den Punkt: »Stillstand hat noch nie geholfen.«
Das Bild vor Ort ist inzwischen vielschichtig, der Grad zwischen Aufbruch und Stillstand teils schmal. Der beißende Geruch von Heizöl, das Mauern durchdrungen hatte, ist nicht mehr allgegenwärtig. Aber auch das permanente Dröhnen von Presslufthämmern als lautes Symbol dafür, dass sich etwas tut, scheint seltener geworden zu sein.
Der Schulhof, letzten Sommer mittags noch voll von Helfern, die hier verpflegt wurden, wirkt nun auch nach den Ferien wie ausgestorben. »Das gemeinsame Essen war auch als gesellschaftliches Ereignis wichtig. Das Gemeinschaftsgefühl ist verloren gegangen«, findet Rau. Ein großes »Danke«-Schild auf dem Schulhof erinnert noch an das Vorjahr, die Toiletten stehen Handwerkern offen. Noch sei nicht klar, ob die Schule saniert werden kann oder abgerissen wird, erzählt ein Mann.
Der Aufbau gehe »schleppend« voran, findet eine Passantin. Viel sei abgerissen worden, manche hätten ihre Grundstücke verkauft. Zwar komme ab und zu ein Bäckerwagen, »aber wenn kein Laden da ist, gibt’s auch keine Normalität«. Immerhin, sagt ein Mann, sei »das Nötigste« wie Wasser und Strom wieder verfügbar, »es braucht eben Zeit«.
Statt Aufräumhelfern werden nun vor allem Spezialisten wie Rau gebraucht. Handwerker sind deutschlandweit zurzeit sehr gefragt, ebenso kurzfristig verfügbare, erschwingliche Baustoffe - erst recht hier, wo an jeder Ecke eine große Baustelle wartet.
Über eine »Notbrücke« rollt Raus Lkw auf die andere Ahrseite. In manchen Vorgärten steht neues Baumaterial, in anderen liegen Schutthaufen. Verwüstung und Wiederaufbau liegen nah beieinander.
»Na Erika!«, ruft Rau einer älteren Frau zu. Sich zu duzen, habe hier schnell dazugehört, sagt er. Die Frau ist für ihn weit mehr als eine Kundin. »Im Winter haben wir bei Erika übernachtet. Da war sie nicht allein, musste keine Angst haben.« Zuhören sei hier »das A und O«, zu manchen Dernauern sind enge Bindungen gewachsen.
Rau und sein Team haben in dem Haus der Frau Wände getauscht, nun ist der Hof dran, Seit Dezember wohnt die Seniorin wieder im Obergeschoss, noch ohne warmes Wasser. Sie ist froh, zurück zu sein, wenn auch in einem Provisorium. Die hochbetagten Nachbarn lebten nun in einem Tiny-House, sagt sie. »Ob die noch mal herkommen, weiß ich nicht.« Auch ihre Tochter Anja Esser ist auf der Baustelle, sie hat den Überblick. »Weihnachten mit Baum hier drin wäre toll«, sagt Esser. Ob das klappt, bleibt abzuwarten.
Allmählich kämen Touristen wieder, und damit »ein Stück Normalität«, berichtet Esser. Doch an vielen Häusern habe sich noch nichts getan, sie fühle sich manchmal wie in einer Geisterstadt. »Es hat keiner damit gerechnet, dass es so lange dauert.« Trotzdem versprüht sie Optimismus. »Was ich hier alles über Handwerk gelernt habe!«, sagt Esser lächelnd. »Es macht auch Spaß, sich damit auseinanderzusetzen. Das brauche ich aber kein zweites Mal.«
Die Versicherungen seien »sehr zugewandt«, sagt sie. Und wenn man alle Papiere parat gehabt habe, sei auch der erste Abschlag aus dem Hilfsfonds recht schnell geflossen. Doch immer wieder heißt es an diesem Montag, dass gerade für Ältere die Beantragung schwierig sei, auch wenn es Hilfe gebe. Rau: »Manche sagen: Es ist besser, wenn man nicht versichert ist, die staatlichen Hilfen kriegt man leichter durch.« Er habe auch schon Neid von Dernauern erlebt, wenn andere schneller vorankommen.
Rau passiert an diesem Tag auch den Bahnhof, der noch nicht per Schiene erreichbar ist. Der Unternehmer hält ein paar Kilometer entfernt in Mayschoß. Dort steht ein älteres Paar an der Ahr, sie blicken auf ein Holzkreuz am Ufer. Die Frau, deren Haus hier gestanden habe, sei ein paar Kilometer weiter tot geborgen worden, erzählen die beiden.
Gegenüber standen vor der Flut zwei Häuser des Paares, das nun andernorts untergekommen ist. Eines sei womöglich noch zu retten, hoffen sie. Die Frau zeigt Fotos auf ihrem Handy vom Chaos nach der Flut. »Da hatte ich mein Nähstübchen und alle Papiere. Wir konnten nichts mehr retten.« Es fällt ihr schwer, die Eindrücke zu verarbeiten. »Ich war zeitweise in vierfacher psychologischer Behandlung, aber es hilft alles nichts«, sagt sie.
Die meisten Helfer seien weg, und mit ihnen auch Versorgungszelte und viele Unterkunftsmöglichkeiten verschwunden. Zwar brauche es nun vor allem geübte Handwerker, räumt die Frau ein, »aber als Handlanger wären die Leute schon wichtig«. Verbitterung klingt mit: »Die Aufmerksamkeit ist weg. Die Ukraine kommt jeden Tag in den Nachrichten - aber das hier ist doch scheißegal.«
Allmählich gehe es zwar auch bei ihnen voran, doch es sei »viel Aufwand«, an die Hilfsgelder zu kommen. »Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit«, sagt sie zum Abschied - und wünscht sich, dass es davon mehr gäbe.
Gegen 16 Uhr tritt Rau die Rückfahrt an. Seine Mitarbeiter hat er in Containern im »Handwerkerdorf« einquartiert, sie bleiben noch ein paar Tage. »Man hilft, und es macht Spaß, gebraucht zu werden«, meint einer von ihnen. Hier zu arbeiten, sei auch als »Teambuilding-Maßnahme« ein Gewinn, ergänzt der Chef.
Auf der Heimreise kommt Rau ins Nachdenken. »Ich war letztes Jahr zutiefst schockiert, dass Behörden so kopflos agieren, da hat nichts funktioniert.« Aber: »Die Mitte der Gesellschaft hat es in geregelte Bahnen bekommen.« Begeistert blickt er auf das Miteinander beim Aufräumen zurück. »Vom Professor bis zum Hartz-IV-Empfänger wurde angepackt - das war eigentlich das Größte, was ich je erlebt habe.« Dieses erhebende Gefühl könne zur Sucht werden, sagt Rau. »Es gibt Leute, die nicht mehr in den normalen Alltag finden. Das gibt dir einen emotionalen Kick - aber keinen Broterwerb.«
Alle paar Minuten ertönt im Lkw klassische Klaviermusik: Raus Handy-Klingelton. Er bespricht sich mit Bauherren, Lieferanten und Mitarbeitern, koordiniert auch während der Fahrt ins Ahrtal Baustellen im Kreis Gießen. Wenn es dort, auch wegen Aufträgen in Dernau, nun mal länger dauere, hätten einige Kunden kein Verständnis. »Jetzt ist das in vielen Köpfen abgeschlossen. Leute fragen: Warum fahrt ihr da noch hin? Ich beschreibe dann, wie es hier ist: Der Ort ist kaputt. Euch geht es doch gut - ihr wollt neue Fenster haben.«
Viele Firmen aus dem Gießener Land hätten »diesen zweiten Schritt nicht gemacht«, nach der ersten Hilfe keine Aufträge im Ahrtal mehr angenommen. Wie lange er hier noch tätig sein wird, weiß Rau nicht. Der Bedarf ist jedenfalls enorm. »Wirtschaftlich gesehen ist es völliger Quatsch, so weit zu fahren«, wenngleich er für Arbeiten in Dernau inzwischen bezahlt wird. Doch Rau will weiter am Wiederaufbau mitwirken. »Dernau wird mir fehlen«, sagt er - auch wenn er es nie unzerstört gesehen hat.