Ein verschwundenes Dorf

Eine 65 Hektar große Waldlichtung nordwestlich von Oberkleen dient heute vielen Joggern und Radfahrern zur Naherholung. Hunderte Spuren weisen indes darauf hin, dass hier einmal das Dorf Wertshausen gelegen haben muss.
Oberkleen von oben: Wer über den Langgönser Ortsteil fliegt und dann weiter westlich über ein Waldgebiet in Richtung Oberwetz, entdeckt irgendwann eine große Lichtung. Wer indes unten steht oder über eine Blümchenwiese spaziert, hört das leise Plätschern des Schwingbachs.
Hier, auf einer Fläche von 65 Hektar, haben einst einfache Grubenhäuser aus Holz gestanden, mit Wänden aus Flechtwerk und Lehm. Das Dorf Wertshausen ist bereits vor mehr als 600 Jahren aufgegeben worden. Doch noch heute weisen - neben der einstigen Rodung der Fläche - zahlreiche Spuren auf die Siedlung hin.
Clemens Ruppert erzählt, wie er und andere an heimischer Geschichte Interessierte das Gelände, auf dem sich heute Äcker, Wiesen, Feldwege und der Bach befinden, vor einigen Jahren mit Bodenarchäologen abgelaufen sind. »Wir haben eine Menschenkette gebildet und haben das Gebiet systematisch durchstreift.« Sie entdeckten im Boden 500 Keramikscherben aus der Gründungszeit des Dorfs um 800 bis zum Ende der Siedlung um das Jahr 1400.
Ruppert zeigt Fotos der Funde. Überwiegend handelt es sich um sogenannte Irdenware: poröse Krüge aus Ton, bei niedriger Temperatur gebrannt. Doch auch auf Scherben aus Steinmaterial, mit höherer Temperatur gebrannt, die aus dem späteren Mittelalter stammen, sind sie gestoßen. »Viele Keramiken, deren Fragmente wir hier gefunden haben, stammen aus damaligen Zentren wie zum Beispiel aus Thalheim bei Limburg.«
Ruppert ist eigentlich Apotheker, arbeitet am Zentrum für Lungenforschung an der Gießener Uni. Seine Freizeit widmet er derweil archäologischen und historischen Fragen. »Es war faszinierend«, erzählt er von den Funden auf den Feldern, wo einst das Dorf Wertshausen stand. »Kleinste Scherbenteile, hin und wieder auch nur ein winziger Pigmentfleck haben ausgereicht, dass der Bodenarchäologe Klaus Engelbach sagen konnte, aus welcher Zeit und woher das Material stammt.«
Ruppert deutet auf Fragmente eines Topfes, in dem Bewohner von Wertshausen einst Breie gekocht haben. Brandspuren weisen darauf hin, dass der Topf vermutlich direkt im Feuer stand. Der sichelförmige Rand lasse auf eine Datierung auf das Jahr 800 schließen, sagt Ruppert. Dann zeigt er auf ein kleines Wandstück, auf dem eine rautenförmige Musterung zu sehen ist. »Das Muster wurde in den frischen Ton mit einem Holzstempel eingebracht.« Es stamme aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Ungewöhnlich sei indes die Entdeckung einer Ofenkachel. In Wertshausen werde eher ärmere bäuerliche Bevölkerung vermutet. »Dass hier offenbar auch bessergestellte Einwohner lebten, die einen Kachelofen hatten, ist erstaunlich.«
Der Boden sei auch geomagnetisch mit einer Sonde untersucht worden, erzählt Ruppert. Am Waldrand seien dabei größere Gruben gefunden worden. »Da haben mit Sicherheit Grubenhäuser gestanden.« An den Feld- und Waldgrenzen habe sich unterdessen in den vergangenen 600 Jahren kaum etwas geändert.
Um Wertshausen ranken sich einige Geschichten. Das Dorf sei um ein Kirchlein herum errichtet worden. Im Dreißigjährigen Krieg sei es von der Pest heimgesucht worden. Nur zwei ältere Frauen sollen überlebt haben und von Nachbardörfern aufgenommen worden sein. »Heute wissen wir, dass das fast alles Legenden sind, die nicht stimmen.« Das Dorf sei eher eine Streusiedlung gewesen. Und zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs hat Wertshausen seit zwei Jahrhunderten nicht mehr existiert.
Die früheste Quelle zu Wertshausen ist im Lorscher Codex zu finden, in einer Schenkungsurkunde vom 30. November 810, damals noch unter dem Namen Werdolfeshusen. Werdolf, der das Dorf dem Lorscher Kloster schenkte, »war höchstwahrscheinlich auch der Gründer«, sagt Ruppert. Der ursprüngliche Dorfname lasse darauf schließen. »Siedlungen, die im 8. und 9. Jahrhundert von den Franken systematisch angelegt wurden, haben üblicherweise den Namen des Gründers bekommen.«
Die Lage an einem nicht zu steilen Hang sowie am Bach und nahe der Katharinenquelle erschien den Franken geeignet, die Fläche wurde aufgrund der günstigen Bedingungen gerodet.
Dass laut Quellen ein Bewohner des Dorfes gegen Ende des 14. Jahrhunderts in Fronkirchen lebte, sei ein Indiz für eine mögliche Abwanderung, um 1380 begann Wertshausen allmählich zu verschwinden. Als Vogtei und als eigenständiger Gerichtsbezirk blieb es zunächst erhalten. 1564 aber standen dort keine Häuser mehr.
Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts seien viele Siedlungen und Dörfer aufgegeben worden, weiß Ruppert. Dies habe in mehreren Fällen mit einer damaligen Klimaveränderung zu tun. »Es gab Missernten, Quellen sind versiegt.« Ein Grund für die Aufgabe von Dörfern war auch, wenn Handelsrouten zu weit entfernt langen.
Die konkrete Ursache für das Ende von Wertshausen ist nicht bekannt. 1444 wird es in einem Urkundenbuch in Braunfels erwähnt, im sogenannten »Roten Buch«: als Wüstung, als aufgegebenes Dorf.
