»Spürbare Einschnitte«: Ackerbauexperte zu Auswirkungen des Ukraine-Kriegs

Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs sind im Kreis Gießen spürbar. Nicht nur die Preise für einige Lebensmittel werden steigen.
Gießen – Als Ackerbauberater hat Dietmar Schmidt aus Buseck sowohl Russland als auch die Ukraine kennengelernt. Nun ist er schockiert über den brutalen Angriffskrieg, der sich auch auf den weltweiten Handel mit Agrarprodukten auswirkt. Die Krise werde in Deutschland zwar nicht zu Hunger führen, aber zu spürbaren Einschnitten, so seine Erwartung.
Eigentlich wollte Dr. Dietmar Schmidt im März in die Ukraine. Für einen Hersteller von Fahrzeugtechnik sollte er, so der Plan, dessen Fabrikate vor Ort betreuen. Es ging um Technik und Logistik für landwirtschaftliche Großbetriebe, um Möglichkeiten der Optimierung - sein Spezialgebiet. Schmidt sitzt in seinem Wohnzimmer auf dem Hof zwischen Beuern und Großen-Buseck, den er in zweiter Generation führt, und spricht begeistert von dem »innovativen Modulsystem«: Ein automatisiertes Fahrzeug mit Elektromotoren, das auf Feldern immer in den gleichen Spuren fahren und so zu besseren Erträgen beitragen könne, wie er erläutert.
Ukraine-Krieg: »Ich habe gesehen, dass dieses Land im Aufbau begriffen ist«
Dann kam der Krieg. »Die Firma fokussiert sich nun auf den amerikanischen Markt« - und Schmidt wirkt noch immer fassungslos angesichts dessen, was russisches Militär nun in der Ukraine anrichtet. »Ich bin einfach nur geschockt.« Wenn in den Nachrichten nun über das Leid in ukrainischen Städten berichtet wird, kommen bei ihm Erinnerungen hoch: Ein gemütliches Kaffeetrinken in Lwiw, ein Besuch auf dem Maidan in Kiew. »Ich habe gesehen, dass dieses Land im Aufbau begriffen ist«, sagt der 62-Jährige.
Zwar sei, so der Eindruck von seinen Dienstreisen vor einigen Jahren, Korruption dort teils noch ein Thema. Doch unter Präsident Selenski sei ein Aufbruch, eine »Westorientierung« spürbar geworden - anders als unter dessen Vorgänger Janukowitsch.
Über die Jahre hat sich der Busecker Landwirt und promovierte Agrarwissenschaftler ein zweites Standbein als Ackerbauberater aufgebaut, vor allem auch in Russland gewirkt. »Ich habe den Übergang von Jelzin zu Putin noch miterlebt«, gut 20 Jahre ist das jetzt her. »Viele haben gesagt: Der Putin ist ein blasses Männchen, wird fremdgesteuert«, blickt Schmidt zurück. Es war eine fatale Fehleinschätzung.
Agrarexperte aus Kreis Gießen rechnet mit Lieferengpässen bei Speiseöl
Welche Folgen der Krieg auch für die Wirtschaft in Deutschland auf Dauer haben wird, lässt sich bislang nur erahnen. Die Ukraine sei europaweit der wichtigste Produzent von Pflanzenölen, sagt Schmidt und verweist auf Raps und Sonnenblumen. Aktuell sind die Speiseöl-Regale in deutschen Supermärkten oft leer. »Bis jetzt ist das reine Psychologie«, so Schmidt, die Hamster lassen grüßen. »Aber es wird Lieferengpässe geben.« Was er über Kontakte aus der Ukraine hört, schockiert ihn. »Die Russen zerschießen Getreidespeicher, landwirtschaftliche Flächen werden vernichtet.« Es sehe so aus, als ob Putin »ein System verbrannter Erde« geplant habe. Das betreffe zwar nicht das ganze Land, doch die Lage sei bedrohlich. »Wenn Odessa genommen wird, hat die Ukraine keinen Zugang mehr zu einem Schwarzmeerhafen, dann fehlt der zentrale Transportweg.«
Hinzu komme, dass nun viele Ukrainer zum Militär eingezogen würden, die eigentlich in der Landwirtschaft arbeiteten, gibt der Experte zu bedenken. Nicht zuletzt würden auch Fahrzeuge nun teils vom Militär beansprucht. Und all das geschieht in einer für den Ackerbau zentralen Phase. »In der Ukraine wird bis zur Hälfte der Flächen im Frühjahr bestellt«, sagt Schmidt. Der März sei für die Aussaat, etwa von Weizen, zentral, ab Ende April gehe es dann unter anderem mit Sonnenblumen los. Schmidt nimmt an, dass über Umverteilung die Versorgung der Ukraine gesichert werden könnte - »aber was passiert, wenn auch Schienen attackiert werden?«.
Landwirtschaftliche Speicher in Deutschland bereits leer
Sowohl Russland als auch die Ukraine spielten auf dem Weltmarkt bei landwirtschaftlichen Produkten eine enorme Rolle. In Deutschland werde durch dortige Ernteausfälle niemand hungern müssen, wenngleich die Preise weiter steigen dürften, so Schmidts Prognose. Doch in Weltregionen, wo die Versorgung schon heute knapp sei, werde der Hunger zunehmen, »weil wir ihnen Produkte wegkaufen«. Bittere Realität in einer globalisierten Welt.
Aktuell sind die Speicher für »landwirtschaftliche Kernprodukte« in Deutschland laut Schmidt weitgehend leer. »In normalen Jahren ist das kein Akt«, da ließen sich schnell Schiffsladungen ordern, etwa aus der Ukraine, um bis zur Ernte in Deutschland einen Puffer zu haben. Und nun? »Momentan wird eine Lücke erwartet - wie es wirklich aussieht, wird sich bis Juni zeigen«, vermutet der Busecker. Er bereite sich schon einmal darauf vor, von seiner Ernte viel direkt zu verkaufen, »es wird sofort gebraucht«. Immerhin führe die Krisensituation dazu, dass hiesige Bauern aufgrund gestiegener Preise Erträge erzielen könnten, die man eigentlich immer brauche. Wobei auch sie freilich von gestiegenen Energiekosten nicht verschont bleiben.
Kreis Gießen: Schmidt schaut entsetzt nach Russland
Wie blickt Schmidt heute auf Russland? Auch er selbst habe sich im Rückblick teils verschätzt, gesteht er ein. »Ich war auch für eine enge Verflechtung mit Russland, dachte mir bei Nord Stream 2: Lass die Amis doch meckern!« Über Jahre sei viel Geld und Know-how in das riesige Land geflossen, »nun wird alles zunichtegemacht«. Das Entsetzen ist Schmidt anzusehen.
»Ich wollte noch mal an den Baikalsee reisen - das wird nicht mehr passieren«, sagt er. Für eine Hoffnung auf politischen Wandel sieht er kaum Anlass, offenbar verfange die Propaganda in Staatsmedien zu sehr. Doch insgesamt habe sich sein Russlandbild nicht gewandelt. »Ein tolles Land mit tollen Leuten - aber an der Spitze ist ein Spinner mit zwei Handvoll Unterstützern. Das sind Kriegsverbrecher. Aber es sind nicht ›die Russen‹.« FOTO: JWR