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Ein magischer Ort

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Von: Ursula Sommerlad

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Hinter einem Torbogen aus dem 18. Jahrhundert findet man den wohl schicksten Stall im Landkreis Gießen. Im Hofgut Utphe hat Natalie Stede den »Schicksaal« eingerichtet. Mal ist er Frisiersalon, mal Café, mal Kleinkunst- bühne. Und immer ist er voller Leben.

Es ist der Raum«, sagt Natalie Stede und lässt ihren Blick schweifen. Säulen, Rundbögen, ein beeindruckendes Gewölbe. Schon Goethes Pferd, so will es die Überlieferung, soll hier gestanden haben. Später diente der Stall aus dem frühen 18. Jahrhundert Jungbullenaufzucht, eine Zeit lang bot ein Spiegel- und Fensterrahmenbauer hier seine Dienste an. Und seit 2006 ist der Seitentrakt von Hofgut Utphe der »Schicksaal«. Mal Friseursalon, mal Café, mal Kleinkunstbühne, immer voller Leben. »Die Leute kommen, weil sie sich wohl fühlen«, sagt Betreiberin Stede. Ihr ging es vor 16 Jahren ganz ähnlich. »Der Raum hat mich gerufen«, sagt sie rückblickend.

Dabei hat ihre Begegnungmit dem »Schicksaal« ganz banal begonnen. Stede war mit einem Reparaturauftrag nach Utphe gekommen, einem zerbrochenen Fenster. Als sie es wieder abholen wollte, hatte die Werkstatt ihren Betrieb eingestellt. Die Hungenerin fuhr mit leeren Händen nach Hause, aber der Anblick des großen, leeren Raumes ließ Stede nicht mehr los. Im Jahr zuvor hatte die Friseurin ihren Meister gemacht. Sie liebäugelte mit einem eigenen Geschäft, traute sich aber nicht so recht: »Ich war alleinerziehend und hatte kein Geld.« Jürgen und Irene Müller, die Eigentümer des Hofguts, haben ihr damals Mut gemacht: Wir helfen Dir!

»Es lief von Anfang an richtig gut«, erinnert sich Stede. »Das ist ein Ort, der zieht die Leute magisch an.« Dennoch hat sie vier Jahre später ans Aufhören gedacht. »Ich war krank und dachte, ich schaffe es nicht.« Wieder waren die Eigentümer des Hofguts zur Stelle. Während Irene Müller die Tränen ihrer aufgelösten Mieterin trocknete, sprach ihr Mann nur einen Satz, knapp und trocken: »Hier wird nicht aufgegeben.«

Natalie Stede hat weitergemacht. Aber sie hat auf ihr Herz gehört, auf vier Frisierplätze verzichtet und das Konzept geändert. Fortan wurde unter der Woche im »Schicksaal« frisiert und am Wochenende auf der Kleinkunstbühne Theater gespielt. Außerdem konnte man das mit Vintage-Möbeln flippig eingerichtete Gewölbe auch mieten.

Ausgerechnet im ersten Corona-Frühling, als die Welt gefühlt stillstand, wurde im »Schicksaal« ein neues Kapitel aufgeschlagen, oder besser gesagt: davor. Im rosenumrankten Innenhof eröffneten die Friseurmeisterin und ihr Partner Stefan Zimmermann Irenes Hofcafé.

Bei der Namensgebung stand Irene Müller Patin. Sie ist 2015 gestorben. Stede spricht voller Wärme von ihrer einstigen Vermieterin. »Sie hat all die Rosen gepflanzt und immer gesagt, dass hier doch ein Café hingehört. Aber ich wusste nicht, wie das gehen sollte.« Am Ende sei es ihr Freund gewesen, der nicht locker gelassen und die Idee weiter gesponnen habe.

Inzwischen hat das Hofcafé, das ursprünglich als reine Freiluftgastronomie in der warmen Jahreszeit geplant war, einen Teil vom »Schicksaal« erobert. Von den Frisierplätzen auf dem Podest fällt der Blick der Kundinnen beim Schneiden, Färben oder Föhnen über die Kaffeehaus-Tische Richtung Theke. Geöffnet ist das Lokal samstag- und sonntagnachmittags. Dann gibt es Kaffee, andere Getränke und Kuchen von der Bäckerei Löber in Echzell. Wenn Musikgruppen spielen, wie es zum Beispiel am 6. August der Fall sein wird, geht der Betrieb in den Abendstunden weiter.

Dass der »Schicksaal« mehr kann, verrät ein Schild vor den beiden Frisierplätzen. »Free Therapy« steht darauf. Es wird ja immer behauptet, dass ein guter Friseur jeden Therapeuten ersetzt. Da scheint was dran zu sein. »Ich interessiere mich für psychologische Themen«, sagt Natalie Stede. Deshalb will sie ihren Laden künftig auch für Workshops und Seminare aus diesem Bereich zur Verfügung stellen. Die Idee kommt nicht von ungefähr. Die Friseurmeisterin entwickelt sich beruflich weiter und hat in Gießen ein Studium aufgenommen. Heilpraktikerin für Psychotherapie, so heißt ihr Ziel. Kein Zweifel, wo sie dereinst ihre Patienten empfangen will: im »Schicksaal«.

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