Ein »fatales Signal«

Seit Jahren steigt der Betreuungsbedarf in Lich. 133 Kita-Plätze fehlen in der Großgemeinde - Platz eins im kreisweiten Wartelisten-Ranking. Interimslösungen sind angedacht, eine neue Kita im geplanten Baugebiet Guteleutsgärten steht in Aussicht. Sobald Baurecht da ist, sollen die Bagger rollen. Derzeit wird über den künftigen Träger diskutiert. Doch das Mehrheitsbündnis lässt sich mit der Entscheidung Zeit.
Fassungslos. Dieses Adjektiv beschreibt wohl am ehesten den Zustand, in dem einige Licher Mandatsträger, Bürgermeister Dr. Julien Neubert und zwei seiner Mitarbeiterinnen am Montagabend die Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft, Soziales, Digitalisierung, Tourismus, Sport und Kultur verließen. Der Grund: Ein Änderungsantrag des Mehrheitsbündnisses, der nach mehr als einstündiger Diskussion über die Vergabe eines 3500 Quadratmeter großen städtischen Grundstücks in den Guteleutsgärten zwecks Kita-Neubau an einen freien Träger vorgelegt und anschließend von BfL, Grünen und FDP beschlossen wurde.
Inhaltlich ging es um die Absetzung des Tagesordnungspunktes und das Verschieben der Entscheidung, bis zwei der vier potenziellen Träger - DRK und AWO - in dem Gremium angehört wurden. »Ich bin wahnsinnig enttäuscht. So stelle ich mir das hier nicht vor«, sagte Neubert, nachdem Nathalie Burg (FDP) den Änderungsantrag für die drei Fraktionen vorgelegt hatte.
Zuvor hatte der Rathauschef, wie bereits zu Beginn der Sitzung ausführlich dargelegt, warum »jetzt der beste Zeitpunkt ist, in die Planungen reinzugehen« und einem der Kandidaten grünes Licht zu geben. Weil es ein wichtiges Signal für die Eltern sei. Weil Bauverwaltung, Planer und künftiger Träger sich abstimmen müssten. Weil noch Verträge gemacht und »viele, viele Punkte inhaltlich diskutiert« sowie Förderanträge gestellt werden müssten. Weil nicht noch mehr Zeit verloren gehen dürfe.
Gebetsmühlenartig skizzierte der Bürgermeister die vergangenen Monate, dass er bereits im Mai den Ältestenrat zu diesem Thema kontaktiert habe und sich die vier potenziellen Betreiber im Juni dem Ältestenrat und Magistrat vorgestellt hätten. In der Sitzungsrunde im Juli habe er angeregt, dass sich eine Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung der konzeptionellen Anforderungen auseinandersetzt. Doch dies sei nicht gewünscht gewesen. Stattdessen spielte der Ausschuss den Ball an den Magistrat zurück. Und der hat nun geliefert.
Intensiv hätten sich die Stadträte laut Neubert in den vergangenen Monaten mit der Thematik beschäftigt. Einrichtungen besucht, Gespräche mit Trägern geführt, einen Kriterienkatalog erarbeitet. Immer mit Beteiligung der für die Kitas zuständigen Verwaltungsangestellten Bianka Heyer und der pädagogischen Gesamtleitung, Sabine Hilcken. Neubert: »Das war sehr viel Arbeit.« Am Ende stand ein einstimmiger Beschluss, der Stadtverordnetenversammlung das DRK als künftigen Kita-Betreiber zu empfehlen.
Weil es im Gegensatz zu den anderen Trägern ausschließlich ein offenes Konzept anbietet, das im städtischen Betreuungsangebot bisher fehlt. Weil das Konzept des DRK für das geplante Familienzentrum (Begegnung, Beratungs- und Therapieangebote) am besten gefällt und man dem Wohlfahrtsverband diesbezüglich die beste Expertise unterstellt. Und weil dieser sich mit 500 000 Euro an den Kosten beteiligt.
Gerade Letzteres wird seitens des Mehrheitsbündnisses aber kritisch hinterfragt. »Warum tun die das und andere nicht?«, wollte Michael Pieck (Grüne) mit Blick auf die hohe Investition wissen. Fraktionskollegin Dr. Cornelia Wagner hatte vergangene Woche im Ausschuss für Bauen, Umwelt und Stadtentwicklung sogar von einem »Geschmäckle« gesprochen. Zudem ist den drei Fraktionen nicht klar, »nach welchen Kriterien Punkte verteilt wurden«, wie Nathalie Burg (FDP) anführte. Und sie stellen in Frage, »ob wir überhaupt ein Familienzentrum brauchen« (Michael Pieck).
Bei den anderen drei Fraktionen rief der Änderungsantrag Empörung hervor. Als »unmöglich« bezeichneten Carmen Körber (SPD) und Gregor Gorecki (CDU) das Vorgehen. Zum einen, weil »uns das noch ein halbes Jahr zurückwirft« (Körber). Zum anderen, weil man den Antrag erst kurz vor der Abstimmung vorgelegt hatte. Gorecki: »Die Diskussion hätten wir uns sparen können.«
»Ganz schlechten demokratischen Stil« warf Josef Benner (FW) den Mandatsträgern vor. Und sein normalerweise ruhiger und besonnener Fraktionskollege Klaus-Wilhelm Gottuck ließ sich sogar zu der Äußerung hinreißen, er fühle sich »verarscht«. In seinen 36 Jahren als Stadtverordneter habe er schon »einige komische Dinge« erlebt, aber »das, was hier in den letzten Monaten abläuft, macht mich sehr nachdenklich«. Seine Einschätzung der Situation: »Hier geht es nicht mehr um sachliche Dinge, sondern um Machtdemonstration. Und das gefällt mir nicht.«
Unverständnis aber nicht nur aufseiten der Politik. Sabine Hilcken bedauerte zutiefst, dass man kein Vertrauen in die Empfehlung des Magistrates habe, und sie wies noch einmal darauf hin, dass die Zeit dränge. »Was wir momentan betreiben, ist Flickschusterei«, sagte sie mit Blick auf Interimslösungen wie die Aktivierung der Grillhütte in Langsdorf zur Kinderbetreuung. Hilcken: »Die Eltern sind verzweifelt. Ihnen zu sagen, ›wir haben keine Eile‹, halte ich für fatal.«
Das Mehrheitsbündnis sah das anders, erkannte zudem die Zeitproblematik nicht und wies auf die Entscheidungshoheit der Stadtverordnetenversammlung hin. Pieck: »Drei Fraktionen haben noch Gesprächsbedarf. Man muss das Thema nicht so emotional hochfahren. Das ist ein demokratischer Prozess. Wir werden das schon entscheiden.«