Ein Agrarland im Wandel

Die Wetterau ist ein Agrarland. Überall Felder, Wiesen, Weiden. Wer aus der Vogelperspektive auf diese Landschaft schaut, sieht je nach Jahreszeit einen unterschiedlich bunt gefärbten Flickenteppich. Dieser Flickenteppich ist historisch und fand sogar Eingang in die Literatur. Georg Büchner lässt in seinem Lustspiel »Leonce und Lena« eine seiner Figuren sagen:
»Wir sind schon durch ein Dutzend Fürstentümer, durch ein halbes Dutzend Großherzogtümer und durch ein paar Königreiche gelaufen und das in der größten Übereilung in einem halben Tag.« Hier kann nur die Wetterau gemeint sein, wo Büchners Flugschrift »Der Hessische Landbote« verteilt wurde.
Der Flickenteppich ist geblieben, ein Blick auf den Internet-Dienst »Google Earth« zeigt eine kunterbunte Landschaft mit gelb, braun und grün schimmernden Raps- und Getreidefeldern. Eine »sanft wogende Ebene zwischen den Gebirgen« hat der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Herbert Heckmann, der viele Jahre in Bad Vilbel lebte, die Wetterau genannt. Zwischen Gießener Land, Vogelsberg und Taunus liegen 14 Städte und elf Gemeinden, die einiges zu bieten haben.
Weltbekannt wurde die Wetterau in jüngster Zeit durch den Keltenfürsten vom Glauberg. Grabhügel, Prozessionsstraße, Fürstengräber und vor allem die Sandsteinstatue des Keltenfürsten bieten einzigartige Einblicke in das Leben der Menschen vor 2500 Jahren. Oberhalb des modernen Keltenmuseums liegt das Glauburg-Plateau, ein Geheimtipp für Spaziergänger.
Weite Blicke in die Landschaft erlaubt auch das »Wetterauer Tintenfass«, die mittelalterliche Burg Münzenberg, die hoch über dem Gambacher Kreuz thront, einem Knotenpunkt des hessischen Straßenverkehrs, wo sich A 5 und A 45 kreuzen. Nicht ganz so weit geht der Blick vom »Balkon der Wetterau« gen Vogelsberg: Der Burggarten in Friedberg ist einer von unzähligen idyllischen Parks in der Umgebung.
Wer die Skyline von Frankfurt sehen will, muss auf den Adolfsturm steigen, den Bergfried der Friedberger Burg. Schaut man nach Westen, fällt der Ockstädter Kirschenberg in den Blick. Im Mai blüht er schneeweiß und lockt Besucher von nah und fern an. Im Süden liegt das Kasernengelände, wo Elvis Presley als GI diente und Friedbergs neuer Stadtteil entstehen soll.
Viele »Elvisse«
Gewohnt hat Elvis bekanntlich in Bad Nauheim, wo er unter anderem in Form einer Bronzestatue präsent ist. Im August kann man im Jugendstil-Sprudelhof Oldtimer bewundern - und viele »Elvisse«, die ihrem Idol nicht nur frisurtechnisch nacheifern. Die Gesundheitsstadt mit zahlreichen Kliniken hat viel zu bieten, ein Highlight ist das zweijährlich stattfindende Rosenfest im Stadtteil Steinfurth. Man muss aber nicht zwei Jahre warten, um die Pracht der Rosen zu bewundern. Mancher Rosenhof gleicht eher einem Landschaftspark.
Nah an Frankfurt liegt die größte Stadt der Wetterau: Bad Vilbel, ein Zentrum der deutschen Mineralwasserproduktion. Die Hassia-Gruppe ist hinter Gerolsteiner nach Absatz und Umsatz der zweitgrößte Marken-Mineralbrunnenbetrieb in Deutschland. Weithin bekannt sind auch die Burgfestspiele, die von Anfang Juni bis Anfang September Zehntausende anlocken.
Am anderen, nördlichen Ende der Wetterau liegt Butzbach, dessen Marktplatz mit den hohen Fachwerkhäusern zu den schönsten Plätzen Hessens zählt. Die Landesgartenschau 2010 hat der Stadt ein neues Gesicht gegeben. Traumhaft schön auch der Blick vom Schrenzerberg, wo Friedrich Ludwig Weidig im 19. Jahrhundert das Turnen in Hessen populär machte und wo heute ein Schwimmbad zum Badespaß einlädt.
Büdingen, am Rande des Vogelsberges gelegen, hat nicht nur das Schloss der Fürsten zu Ysenburg und Büdingen sowie das mächtige Jerusalemer Tor zu bieten. Eine von vielen Sehenswürdigkeiten ist das 50er-Jahre-Museum, das eine etwas andere Zeitreise möglich macht.
Die Wetterau hat alles zu bieten: Einkaufsstraßen und alte Kirchen, eine Vielzahl an Vereinen und Gruppen, die das dörfliche oder kleinstädtische Leben mit ihren Freizeitangeboten erst lebenswert machen - und jede Menge Natur. In der »Kornkammer Hessens« werden auch die Streuobstwiesen gepflegt. Hier »wächst« ein herber Äppelwoi, der in der Straußwirtschaft mit Handkäs’ und Musik oder zu herzhafter Hausmacherwurst genossen wird. Schon die Römer erkannten das Potenzial der fruchtbaren Lössböden und zogen eine Mauer um die Wetterau: der als Welterbe geadelte Limes, der hier einen im Gesamtverlauf auffälligen Bogen macht. Auch Limes-Wachtürme kann man in der Wetterau bewundern.
Rau, aber herzlich
Und die Menschen? Ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Da die Wetterau nur einen Katzensprung von der Mainmetropole Frankfurt entfernt liegt, zieht sie viele Pendler an. Ein Beispiel dafür ist der Bad Vilbeler Stadtteil Dortelweil-West, der vor einigen Jahren entstand. Die Alteingesessenen, die Ureinwohner der Wetterau, sind heimatverbunden, aber weltoffen, rau, aber herzlich, und man trifft auch so manches »Hackklötzchen«, das sich von nichts und niemanden etwas sagen lässt. Die Renitenz ist ein Vorrecht des Landbewohners; was die Großkopferten in Wiesbaden oder Berlin treiben, wird kritisch beobachtet.
Die Zahl der berühmten Wetterauer ist groß, und wenn man nur einen herausgreift, etwa den Friedberger Filmemacher, Schauspieler, Autor und Regisseur Wolf Schmidt alias »Babba Hesselbach«, heißt es gleich »Karl, mei Drobbe! Da gibt’s ebber noch e poar annere«. Mag sein.
Landschaft verändert sich. Wurden viele Bäche in der Nachkriegszeit begradigt, so galt es in jüngster Zeit, Renaturierungen vorzunehmen. Mit Erfolg. Vor rund 20 Jahren jubelten Naturfreunde, als endlich wieder ein Storch in der Wetterau heimisch wurde. Heute sieht man Mähdrescher, die bei der Fahrt übers Feld von bis zu 100 hungrigen Störchen begleitet werden. Fehlt nur noch, dass die Wingerte wiederbelebt werden und die Wetterau, wie vor einigen Hundert Jahren, wieder zum Weinanbaugebiet wird. Der Klimawandel wird’s schon richten. Jürgen Wagner





