Die Stunde der Gutachter

Der politische Streit um die Ortsumgehung Reiskirchen ist vor Jahrzehnten ausgetragen worden. Jetzt schlägt die Stunde der Gutachter. Vor dem Zweiten Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs steht seit Dienstag der Planfeststellungsbeschluss für die Südumgehung auf dem Prüfstand. Fast acht Stunden lang wurde am ersten Tag verhandelt. Heute geht es weiter.
Wegen dieser Trasse hat Carmen Grieb wohl schon viele schlaflose Nächte gehabt. Sie betreibt auf dem »Sonnenhof« in Lindenstruth eine Pferdezucht und eine Pferdepension. Die Südumgehung der B49, die die Ortslagen von Reiskirchen und Lindenstruth vom Verkehr entlasten soll, würde direkt an ihrem Betrieb vorbeiführen und ihre Weideflächen durchtrennen. Eine Einschränkung für den Betrieb, gewiss. Daran hat niemand einen Zweifel. Aber würde der Straßenbau den »Sonnenhof« auch in seiner Existenz bedrohen? Unter anderem um diese Frage ging es am Dienstag vor dem Zweiten Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Kassel.
Drei Themenkomplexe haben die drei Berufs- und zwei Laienrichter, vier Frauen und ein Mann, unter Vorsitz von Dr. Karin Sens-Dieterich abzuarbeiten: die Belange des Artenschutzes, die Situation des Reiterhofs und die fachplanerische Prüfung der Alternativen. Um Reiskirchen und Lindenstruth vom Durchgangsverkehr auf der B49 zu entlasten, könnte man die Umgehungsstraße theoretisch nämlich auch im Norden um die beiden Orte herumführen. Ist die Südvariante, für die sich die Gemeindevertretung vor langer Zeit entschieden hat und die 2009 in einem Bürgerentscheid bestätigt wurde, tatsächlich die bessere und günstigere?
Neben Carmen Grieb hat auch der VCD-Landesverband gegen den Planfeststellungsbeschluss Klage erhoben; er sprang für die Reiskirchener Grünen und die Naturfreunde Jossolleraue in die Bresche, die beide nicht klagebefugt sind. Auf der anderen Seite steht das Hessische Wirtschaftsministerium, das den Planfeststellungsbeschluss im Dezember 2016 gefasst hat. Der Versuch, den Konflikt mittels Mediation beizulegen, ist gescheitert.
Was vor dem Güterichter verhandelt wurde, ist nicht bekannt und auch nicht Gegenstand des jetzigen Verfahrens, wie die Vorsitzende Richterin betonte. Aufgabe des Zweiten Senats ist es, zu prüfen, ob es im Zuge des Planfeststellungsverfahrens zu Fehlern gekommen ist.
Seit jeher haben die Gegner der Südumgehung einen Schwerpunkt auf den Artenschutz gelegt. Sie argumentieren, dass zwingende Vorschriften bei der Planfeststellung nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Die rund 50 Zuhörer, darunter neben den Verfahrensbeteiligten auch etliche Mitglieder aus Gemeindevertretung und Gemeindevorstand, sahen sich in der mündlichen Verhandlung mit vielen Fachfragen konfrontiert, die von den Experten völlig unterschiedlich gewichtet wurden.
Gestritten wurde unter anderem um die Kartierung von Vogelarten wie Sperling, Stieglitz oder Eulen, um Beeinträchtigungen der streng geschützten Feldlerche oder den Lebensraum der Goldammer. Gehölze, auf die diese Vogelart angewiesen ist, sollen dem Straßenbau zum Opfer fallen. Die Anlage einer neuen Streuobstwiese ist nach Auffassung des von den Klägern beauftragten Gutachters Wulf Hahn kein adäquater Ersatz.
Fledermausschutz nachgebessert
Was den Fledermausschutz angeht, so hat die beklagte Planfeststellungsbehörde bereits nachgebessert. Diplom-Biologe Heiko Klostermeyer stellte ein erweitertes und für verbindlich erklärtes Schutzkonzept vor, das den Tieren das Queren der künftigen Trasse erleichtern soll. Dazugehören unter anderem eine verbreiterte Grünbrücke und erweiterte Unterführungen. »Absolut fachgerecht«, lautete das Urteil des Gutachters der Gegenseite. Allerdings: »Das zeigt, dass die Planung unzureichend war.«
Konzepte gibt es auch für die Zauneidechse und den Ameisenbläuling, einen Schmetterling, der schon den Bau des neuen Reiskirchener Sportplatzes erschwert hat. Auch hier wurden die vorgestellten Schutzmaßnahmen von Klägerseite in Zweifel gezogen.
Am Nachmittag erläuterte Carmen Grieb dem Gericht die Auswirkungen der Südvariante auf ihren Reiterhof. 2,4 Hektar ihrer eigenen Flächen sowie weiteres Pachtland würden für den Straßenbau in Anspruch genommen. Ersatzflächen, die ihr angeboten wurden, hat sie ausgeschlagen: zu steil, zu nass, zu weit entfernt, zu gefährlich für die Tiere. Sie sieht die Existenz ihres Betriebes durch die Umgehung gefährdet. Die landwirtschaftliche Gutachterin Dr. Christina Müller und Monika Eicke als Sachverständige für Pferdeverhalten halten die Probleme für lösbar. Die mündliche Verhandlung wird an diesem Mittwoch fortgesetzt.