1. Gießener Allgemeine
  2. Kreis Gießen

»Der Wandel ist groß«

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Stefan Schaal

Kommentare

srs-roemheld_110622_4c
Julia Reichert leitet das Familienunternehmen Römheld in fünfter Generation. Der vierköpfigen Geschäftsführung gehört sie seit 2016 an, ihr Bruder Philipp Ehrhardt seit 2018. FOTO: PM © pv

Der Automobilzulieferer Römheld in Laubach steht inmitten enormer Veränderungen, auch vor dem Hintergrund der Elektromobilität. »Es ergeben sich so viele neue Möglichkeiten«, sagt die 41 Jahre alte Julia Reichert von der Geschäftsführung. »Wir müssen sie nur finden.«

Frau Reichert, jeder achte zugelassene Neuwagen in Deutschland ist in diesem Jahr ein reines Elektroauto, der Boom zieht an. Wie spüren Sie die Entwicklung als Automobilzulieferer?

Ich hätte nicht geglaubt, dass sich die Zeitschiene, in der dieser Boom seit 2016 verläuft, so verkürzt. Natürlich ist es für uns aus unternehmerischer Sicht furchtbar traurig, dass der Verbrennermotor vor dem Aus steht. Aber es ergeben sich gleichzeitig so viel mehr neue Möglichkeiten in der Branche. Wir müssen sie nur finden. Es werden ja nach wie vor unfassbare Mengen an Automobilen hergestellt, die eine Verkleidung haben, Formen zum Beispiel müssen weiterhin gepresst werden.

Aber für Sie fallen auch Geschäftsfelder weg.

Ja. Der klassische Verbrenner hat rund 3000 Einzelteile, die Hälfte davon wird zerspant. Bei Elektroautos ist der Anteil der Zerspanung deutlich reduziert, um etwa ein Drittel. Aber es eröffnen sich eben auch neue Felder. Mit einem Maschinenhersteller haben wir kürzlich die Fertigung der Hinterachse für einen Elektro-SUV von Landrover entwickelt, das heißt die Spannwerkzeuge und die Sensorik. Wir müssen im Markt sehr aktiv sein, um Anfragen mitzubekommen, die Ansprechpartner sind nicht mehr dieselben. Der Wandel ist groß.

Spüren Sie eigentlich die Entwicklung der Elektro-Mobilität in Ihren Geschäftszahlen?

2019 lag der Umsatz im Gesamtunternehmen bei rund 100 Millionen Euro, in den Jahren danach ist er merklich gesunken. Das ist auf den Rückgang des Verbrennermotors und auf die Pandemie zurückzuführen.

Was macht Sie zuversichtlich, in diesem Wandel zu bestehen?

Der Kuchen der Automobilbranche wird anders und neu verteilt. Ja, unsere Wettbewerber holen auf. Aber was zählt sind Schnelligkeit, die Verfügbarkeit von Produkten und ein guter Kundenservice. Das sind unsere Stärken. Ich hätte nie gedacht, dass dass häufig sehr oberflächlich gemeinte Sätze wie »Man muss den Mut haben, etwas Neues auszuprobieren« tatsächlich Ihre Berechtigung haben. Ist das jetzt schon alles, was wir können? Oder können wir noch mehr? Provokativ gesagt geht es darum, dass wir uns von dem Gedanken lösen, dass wir immer nur bei denselben Kunden die Klinke putzen. Es geht auch darum, in neue Geschäftsfelder zu stoßen.

Zum Beispiel?

Mein Aha-Erlebnis war vor mehreren Monaten ein Besuch bei einer Firma für Süßwarenmaschinen in Rheinland-Pfalz. Dort werden Schokolade und Gummibärchen geformt, dabei kommen auch unsere Produkte zum Einsatz. Besser kann es gar nicht sein: Die Branche ist von konjunkturellen Einbrüchen kaum berührt, Süßigkeiten werden immer gegessen.

Also Süßigkeiten statt Autos?

Unsere Technologien kommen auch in Zahnimplantaten und in Windkraftanlagen zum Einsatz. Für ein Unternehmen haben wir gerade eine Montagevorrichtung konzipiert, die dabei hilft, Elektrofahrräder montieren zu können. Dieser Markt ist unglaublich groß. Uns ist wichtig, dass wir uns nicht mehr nur auf dieses Haifischbecken fokussieren, sondern dass wir sagen, wir können unsere Geschäftsfelder erweitern.

Worin genau besteht Ihr Hauptgeschäftsfeld?

In der hydraulischen Spanntechnologie. Einfach erklärt: Um zum Beispiel einen Motorblock bei der Fertigung eines Autos zu bearbeiten, muss dieser gespannt, das heißt fixiert werden, damit er sich nicht bewegt. Die Spannungskomponenten produzieren wir, wir sind darin seit vielen Jahrzehnten Weltmarktführer. Das ist aber nur ein Bereich. Wir stellen zum Beispiel auch sogenannte Aktuatoren her, diese regulieren bei Mähdreschern oder Salzstreufahrzeugen die Auswurfmenge.

Inwiefern ist denn der Bereich der hydraulischen Spanntechnologie ein Haifischbecken?

Die Vielfalt an Produkten bietet kein anderer als wir. Aber manche Wettbewerber verschaffen sich einen Vorteil, indem sie aus der Nische heraus arbeiten und spezialisiert sind. Sie können dadurch für einzelne Produkte eine schnellere Verfügbarkeit bieten. Das kann dann auch mal schmerzen.

In Ihrem Unternehmen haben Sie nun selbst einen Wandel vollzogen. Sie haben die Führungsgruppe von vier auf zwölf erweitert. Führt das nicht zu langsameren Entscheidungsprozessen?

Das Unternehmen Römheld hat in den vergangenen fünf Jahren einen deutlichen Generationswechsel stemmen müssen, unter den Gesellschaftern und in der Geschäftsführung. Dabei ist die Erkenntnis gereift, dass wir all unser Wissen zusammenbringen müssen, um bestmöglich mit Herausforderungen umzugehen, die in dieser Konstellation vorher niemals existiert haben, wie zum Beispiel dem Wandel in der Automobilbranche. Wir haben eine Art strategischen Führungskreis gebildet. Neben den vier Geschäftsführern sitzen in dem Gremium acht weitere Führungsleute. Das nimmt mehr Zeit in Anspruch, ist aber lohnenswert.

Und welche Auswirkungen hat diese Umstrukturierung?

Es geht wohlgemerkt nicht um operative Aufgaben. Wir diskutieren mindestens einmal im Quartal über Strategien für die kommenden drei Jahre und darüber hinaus. Die Erweiterung des Führungskreises macht sich zum Beispiel schon in der Art bemerkbar, wie viel intensiver wir über strategische Fragen kommunizieren. Weil wir alle im Thema sind. Das ist ein anstrengender Prozess. Bei zwölf Leuten kann man sich sicher sein, dass man knallhart serviert bekommt, wo es noch nicht passt. Aber auch auf den unteren Ebenen haben wir für flachere Hierarchien gesorgt.

In welcher Form?

Viele junge Leute, die zu uns ins Unternehmen kommen, wollen stärker mitgestalten. Dem wollen wir Rechnung tragen und arbeiten an neuen Konzepten.

Ist das Ziel dabei auch, das Personal zu verschlanken?

Nein. Wir wollen uns produktiver aufstellen. Idealerweise wollen wir in Zukunft weiter wachsen. Grundsätzlich ist unser Ziel, dass die Mitarbeiter ihre Arbeit als sinnhaft erleben, dass sie in einer Struktur arbeiten, die interaktiver ist und dass sie sich dadurch wohlfühlen. Wie sprechen wir miteinander? Wie ist unser Beurteilungssystem? Wie können wir bestimte Prozesse verbessern? Die Antworten auf solche Fragen sind nicht mehr nur die Aufgabe einzelner Vorgesetzter, sondern aller in ihren Teams. Wir sind dabei aber noch in der Testphase, wir haben damit Ende November vergangenen Jahres angefangen.

Beeinträchtigt der Krieg in der Ukraine Ihr Geschäft?

Ja, aber nur marginal. Es ist ein bisschen bitter, weil wir gerade versucht haben, Marktbeziehungen nach Russland aufzubauen. Es waren Messen geplant. Wir haben einem möglichen Vertriebspartner nach Ausbruch des Kriegs dann aber abgesagt. Interessant war, dass das anfangs auf Unverständnis gestoßen ist, weil die Informationslage dort eine andere war. Wir haben unseren Schritt mit Berufung auf offizielle Meldungen begründet.

Haben Sie mit Versorgungsengpässen infolge des Kriegs zu tun?

Bei Grundmaterialien und Legierungen. Das trifft die ganze Branche. Wir versuchen über unterschiedlichste Quellen, alternative Lieferanten zu finden, aber das ist kompliziert, Materialeigenschaften müssen erst mal überprüft werden. Es ist aufwendig. Vor allem aber ist die anhaltende Existenz der Krisen belastend. Man denkt, man hat es durch die Pandemie geschafft, atmet durch, dann bringen einen Versorgungsengpässe bei Elektrochips in Bedrängnis, schafft es aber, diese zu bewältigen. Und dann entstehen neue Engpässe. Ich arbeite sehr gerne. Aber da muss man manchmal schon versuchen, morgens im Auto so laut Musik zu hören, dass man da den Kopf frei bekommt. Krisen überwindet man, wenn man weiß, dass sie überbrückbar sind. Wir müssen uns aber darauf einstellen, dass wir auch in der unmittelbaren Zukunft durch unruhige Zeiten gehen werden.

Auch interessant

Kommentare