Der Vogel-Versteher

Der Kindheitstraum von Gerald Reiner ist rund 1,7 Kilo schwer und mehr als 300 Seiten stark. Der Wissenschaftler aus Wißmar hat eine opulent bebilderte Dokumentation der europäischen Vogelwelt vorgelegt.
Der Schwarzstorch gilt als scheuer Geselle - nur wenige Menschen bekommen ihn zu Gesicht, wenn sie wachen Auges durch die Wälder streifen. Während der Weißstorch als Glücksbringer galt und für Kindersegen »verantwortlich« gemacht wurde, hatte der schwarze Vogel ehedem den Ruf des Unglücksboten, erzählt Gerald Reiner. Er kennt sie beide überaus gut: Eine Leidenschaft des 60 Jahre alten Wissenschaftlers aus Wißmar sind Vög el.
Von seinen Reisen kreuz und quer durch Europa hat Reiner Zehntausende spektakuläre Fotos mitgebracht. Mit einem opulent bebilderten und kenntnisreich geschriebenen Buch hat er den gefiederten Freunden zwischen Finnland und Portugal nun ein Denkmal gesetzt.
Ungezählte Stunden hat Reiner dafür still und reglos gesessen, bei Hitze ebenso wie in eisiger Kälte; oftmals versteckt in kleinen Holzverschlägen, um die scheuen Tiere nicht zu beunruhigen. Alle 300 großformatigen Fotos sind ausschließlich in der freien Wildbahn Europas entstanden. Ganze Tage lang harrte Reiner dafür mit der Kamera im Anschlag aus, um optimale Ergebnisse zu erzielen.
Vor etwa 13 Jahren, als Reiner in Kanada unterwegs war, hat ihn die Leidenschaft der Tierfotografie gepackt und seitdem nicht mehr losgelassen. In der Fachwelt hat sich Reiner, Professor an der Gießener Justus-Liebig-Universität, als Genetiker einen Namen gemacht. Sein Spezialgebiet sind Krankheiten des Haus- und des Wildschweins. Darüber hinaus arbeitet der Veterinärmediziner und Wildbiologe seit Jahren an der genetischen Analyse des Rotwildes im Krofdorfer Forst mit.
In seinem jüngst veröffentlichten Buch beschreibt er auf über 300 Seiten mehr als 120 Vogelarten aus 21 Lebensräumen, vom Auerhuhn über den Halsbandschnäpper bis zum Zwergtaucher - einschließlich eines Anhangs mit Artenregister, Namensregister, biologischen Daten sowie eine Bewertung des Gefährdungsstatus.
Es ist eine Bilderreise durch Europa, von Finnlands Taiga im Norden bis nach Kastilien im Westen Spaniens, von Schottlands Höhen bis ins Donaudelta am Schwarzen Meer mit seiner extremen Artenvielfalt. Dabei widmet sich Reiner seltenen Vögeln wie dem Ortolan ebenso wie den heimischen »Bekannten« wie Sperling und Schwalben.
88 der rund 120 porträtierten Vögel sind auch in Deutschland heimisch - so wie etwa der Schwarzstorch. Da gibt es sogar Vorkommen im Krofdorfer Forst. Dieser Tage erst wurde eines der scheuen Tiere in der Lahnaue gesichtet.
Reiners zentrale Botschaft: Die gefiederte Vielfalt muss bewahrt werden. Gerade der Schutzgedanke treibt ihn um in Zeiten, in denen auch hierzulande Sperling und Schwalbe schon als bedroht gelten. Den Tieren fehlt es teils an Nahrung, teils an Lebensraum, wenn Straßen und Wege mehr und mehr versiegelt, wenn Scheunen umgebaut und Ställe abgerissen werden.
Reiner ist es wichtig, auf die komplexen Zusammenhänge und deren Folgen hinzuweisen. Sterben Kleinlebewesen an Insektiziden und gehen Kräuter an Pestiziden zugrunde, dann verstummt in Folge bald das Gezwitscher, wirbt er um Verständnis für Nöte in der Vogelwelt.
Reiner sei » Veterinär aus Berufung, Wildbiologe aus Überzeugung und Wildtierfotograf aus Passion«, schreibt Dr: Andreas Kinser von der Deutschen Wildtier-Stiftung im Vorwort des Buches. »Mit seiner Dokumentation über die ›Gefiederte Biodiversität Deutschlands und Europas‹ hat er all diese Talente in einem Werk vereint.«
Bei aller Ernsthaftigkeit im Werben um den Schutz der Vogelwelt blitzt in dem Werk hier und da des Professors feiner Humor auf. Etwa, wenn er darlegt, wie es ihm gelingt, neben seiner Arbeit an der Hochschule den Freiraum für das Buch-Projekt zu finden: »Wer sich fragt, woher ich die Zeit nehme für eine so aufwändige Dokumentation - die Antwort ist einfach: Das Privileg, völlig unmusikalisch zu sein und damit massiv Zeit für Proben einzusparen, ist das Geheimnis.«
»Gefiederte Biodiversität Deutschlands und Europas«, Gerald Reiner, 39,- Euro, ISBN 978-3-936802-33-7. Gießen 2021.


