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Demokratie-Feinde im Kreis Gießen: Gefährliche Allianzen

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Von: Jonas Wissner

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Zwar hat die Kreis-Fachstelle für Demokratie 2020 weniger Veranstaltungen von Rechtsextremen als 2019 erfasst. Doch das Corona-Jahr hat Demokratiefeinden Auftrieb gegeben - und zu bedenklichen Bündnissen geführt.

Wo, wie häufig und in welcher Form ist 2020 Demokratiefeindlichkeit im Kreis Gießen offen zutage getreten? Eine erschöpfende Antwort darauf kann die Fachstelle für Demokratie und Toleranz des Landkreises nicht geben. Doch die Fälle, die ihr gemeldet wurden, lassen Tendenzen erkennen. »Es gibt eine höhere Präsenz menschen- und demokratiefeindlicher Einstellungen im Alltag«, äußerte sich Julia Erb, Jugendbildungsreferentin der Fachstelle, am Mittwoch. Auch hätten sich »neue Protestallianzen« gebildet, die sich nicht gegenüber Rechtsextremen abgrenzten, so Erb mit Blick auf Proteste gegen die Corona-Maßnahmen, die vor allem in Gießen verbucht wurden.

Basis dieser Einschätzung ist das Monitoring demokratiefeindlicher Vorkommnisse. Das Konzept: Die Kreis-Fachstelle sammelt Fälle, die ihr mittels Dokumentationsbögen zugetragen wurden oder beispielsweise Gegenstand von Presseberichterstattung waren. Vorgestellt wurde das Monitoring für das vergangene Jahr sowie das erste Quartal 2021 am Mittwoch im Rahmen der fünften Arbeits- und Vernetzungstagung »Demokratie und Toleranz im Landkreis Gießen fördern«, die diesmal online stattfand. Mehrere Dutzend Interessierte nahmen teil und vertieften am Nachmittag Schwerpunkte in Workshops. Dabei ging es unter anderem um Perspektiven von Bürgerbeteiligung, die Stärkung demokratischen Bewusstseins bei jungen Menschen und den Umgang mit Angriffen auf demokratische Werte und Institutionen. Unter den Teilnehmern waren Vertreter von Kommunalpolitik, Polizei, Sozial- und Jugendarbeit, aber etwa auch Lehrer und Schüler.

Demokratiefeindliche Vorfälle im Kreis Gießen: Zahlen allein sagen wenig aus

Für das Jahr 2019 hatte das Monitoring 33 Fälle ergeben, 31 waren es für 2020 und neun im ersten Quartal des laufenden Jahres. Doch diese Zahlen allein sind auch deshalb wenig aussagekräftig, weil die Liste nicht erschöpfend ist. Allerdings macht das Monitoring deutlich, dass Demokratiefeindlichkeit viele Gesichter hat und sich Trends verschieben: 2019 hatten sich rechtsextreme Vorfälle verschiedenster Art im Kreis gehäuft - von NPD-Demonstrationen in Gießen bis hin zu einem Rechtsrock-Konzert in Villingen. Im Vergleich dazu, so Erb, verzeichne man für 2020 weniger »organisierte Aktionen und Feiern« von Rechtsextremen, womöglich auch wegen der Corona-Einschränkungen.

Dies bedeute allerdings keineswegs, dass die Verherrlichung des Nationalsozialismus abgenommen habe. »Es wird ›Sieg Heil‹ im öffentlichen Raum gerufen«, sagte Erb. Zwei solcher Vorfälle wurden aufgenommen, viermal das Zeigen des »Hitler-Grußes«. Aufkleber mit antidemokratischen und diskriminierenden Inhalten, etwa von der NPD und der »Identitären Bewegung«, seien 14 Mal dokumentiert worden - laut Erb ein neuer Höchststand.

Auffällig sei, dass anders als in den Vorjahren 2020 besonders viele demokratiefeindliche Vorfälle in der Stadt Gießen stattgefunden hätten. Dabei spielten Aktionen der »Corona-Rebellen« eine große Rolle und boten Anknüpfungspunkte für Rechtsextreme. Allein fünf »Hygiene-Demos« und ähnliche Veranstaltungen habe es im Mai und Juni 2020 in Gießen gegeben, meist unangemeldet. »Das Problem ist, dass Verschwörungstheorien verbreitet werden«, so Erb. Bei den Protesten seien »sehr heterogene Gruppen« zusammengekommen, ähnlich wie bundesweit bei den »Querdenkern«. Fotos der Demos zeigen auch Symbole und Slogans, die dem rechtsextremen Milieu zuzuordnen sind. Unter den Teilnehmern waren laut Monitoring auch Menschen, die sich 2019 an Demos der »Gelbwesten« beteiligt hatten, außerdem »Reichsbürger«-Aktivisten. Ferner hat der Kreis etliche Fälle gesammelt, in denen auf Flyern die Gefährlichkeit des Coronavirus geleugnet wird, unter anderem in Lützellinden.

Demokratiefeindliche Vorfälle im Kreis Gießen: Antisemitische Klischees

Einmal mehr sind auch etliche antisemitische Äußerungen im Kreis zu verzeichnen, unter anderem auf Plakaten und Aufklebern, teils auch im Kontext von »Hygiene-Demos«. Für Aufsehen sorgte im Februar 2020 ein Plakat bei Protesten gegen die »Langsdorfer Höhe«, das deutlich antisemitische Klischees bediente. Auch als rassistisch einzustufende Beschimpfungen und Diskriminierungen finden sich im Monitoring, teils gezielt gegen Muslime gerichtet. Nicht zuletzt waren Hasskommentare im Netz erneut Thema.

Unter dem Stichwort »Antipluralismus« ist die Demontage von fünf Schildern an den Ortseingängen von Allendorf (Lumda) im November gelistet, die auf Vielfalt, Demokratie und Toleranz verweisen. Inzwischen wurden sie ersetzt und durch weitere Schilder in den Nordkreis-Kommunen ergänzt.

»Die Corona-Pandemie setzt unsere Gesellschaft seit über einen Jahr unter starke Anspannung«, wandte sich Erb an das Online-Plenum. »Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist herausgefordert, zeitgleich sinkt das Vertrauen in die Demokratie«, so ihr Eindruck. Gerade die Offenheit von Demokratien für neue Bewegungen mache diese Herrschaftsform auch fragil, betonte die Marburger Politikwissenschaftlerin Prof. Ursula Birsl in einem Vortrag zum Auftakt der Tagung. Es brauche eine »reflektierte Auseinandersetzung« und politische Bildung, damit die Demokratie nicht kippt. Ein Appell, der alle Demokraten betrifft.

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