1. Gießener Allgemeine
  2. Kreis Gießen

Damit sich das Grauen nicht wiederholt

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Rüdiger Soßdorf

Kommentare

so_zygedenken_111121_4c
so_zygedenken_111121_4c © Emanuel Zylla

Es ist das finsterste Kapitel deutscher Geschichte: Am 9. und 10. November 1938 brannten in Deutschland Synagogen und Geschäfte jüdischer Bürger. Juden wurden beschimpft und beleidigt, geschlagen und verhaftet. Sie wurden aus dem gesellschaftlichen, dem wirtschaftlichen und dem politischen Leben ausgegrenzt. Aus Nachbarn, Arbeitskollegen und Vereinskameraden wurden - Juden.

Nicht von ungefähr. Der sich mit der sogenannten Reichspogromnacht sichtbar Bahn brechende Antisemitismus hat in Deutschland eine lange Vorgeschichte, die weit vor 1933 zurückreicht. Der 9. November 1938 steht für den nächsten Eskalationsschritt von der Verfolgung zur Vernichtung, zu einem systematischen Massenmord an Menschen - weil sie anders waren: homosexuell, geistig oder körperlich eingeschränkt, von anderer politischer Haltung, anderen Glaubens.… Allein rund sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens aus ganz Europa wurden umgebracht.

»Das Erinnern ist eine Aufgabe, die uns auf Dauer auferlegt ist«, sagt der Wettenberger Bürgermeister Thomas Brunner. »Eben weil wir, das deutsche Volk, viel Schuld auf uns geladen haben.« Wie bedeutsam es ist, zu mahnen und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, das zeigen beispielhaft der Mord an Walter Lübcke, die Anschläge von Hanau oder Halle. Die Aufgabe bleibt, in der Gesellschaft ein Klima zu schaffen, das solche Gräueltaten verhindert. Am Dienstag und Mittwoch kamen an vielen Orten Menschen zusammen, um das Wissen lebendig zu halten und daraus für Gegenwart und Zukunft zu lernen. Damit sich das Grauen nicht wiederholt. so

In Krofdorf-Gleiberg haben Schüler der Gesamtschule Gleiberger Land sowie wie die Konfirmanden die Gedenkstunde im Kirchgarten mitgestaltet. Sie riefen die Namen der auf der Gedenktafel im Kirchgarten verzeichneten ehemaligen Mitbürger in Erinnerung: Gustav Rosenthal, Rosa Rosenthal, Siegbert Rosenthal. Sie erinnerten die Schmähungen der Familie von Sally Süßkind, die 1936/37 in die USA und nach Israel fliehen konnte. Vor der nationalsozialistischen Machtergreifung sind die Familien Julius Simon und Jakob Simon sowie Gustav Rosenthals Brüder Isidor, Siegmund, Simon und Gottlieb Rosenthal aus Krofdorf weggezogen. Pfarrer Christoph Schaaf appellierte, untereinander Re-spekt walten zu lassen - und Vergangenheit nicht zu glätten, zu verdrängen oder zu vergessen. so

In Hungen findet das Gedenken erst am 10. November statt - dem Tag an dem hier das Judenpogrom stattfand. Am Denkmal am Jüdischen Friedhof an der Friedberger Straße berichtete Christoph Fellner von Feldegg für die AG »Spurensuche« von der Verwüstung der Synagoge in der Bitzenstraße und in den Wohnhäusern der jüdischen Bürger: »Was aber kaum jemand weiß, zehn Jahre später wurden 20 Bürger dafür vor Gericht gestellt.« Elf der Angeklagten wurden damals freigesprochen, neun wegen Landfriedensbruch verurteilt. Die Freiheitsstrafen betrugen drei bis neun Monate. »Zumindest gab es Urteile«, meinte Fellner von Feldegg. Bürgermeister Rainer Wengorsch appellierte daran, mit Blick auf die Geschehnisse des 9. und 10. Novembers achtsam gegenüber der Demokratie zu sein. Schüler der Gesamtschule Hungen erinnerten mit einer Darstellung an die Schrecken des Judenpogroms. con

In Buseck haben Schüler an der ehemaligen Synagoge am Anger an das jüdische Leben in der Gemeinde erinnert - und wie Nationalsozialisten diesem ein grausames Ende setzten. Man merkte, dass die Gedenkstunde den IGS-Schülern eine Herzensangelegenheit war. Mitfühlend, aber fokussiert trug jeder einen Part der ebenso brutalen wie traurigen Ereignisse dieses Tages in Großen-Buseck vor: Wie stellt es sich dar, wenn einen die Gesellschaft, in der man sich heimisch und sicher fühlt, plötzlich ächtet und ausschließt? Nach jedem Geschichtspart wurde eine Kerze ausgeblasen. Eine gleichermaßen eingängige wie beklemmende Symbolik: Jedes erlöschende Licht erinnerte an ein sinnlos ausgelöschtes Leben. Zum Abschluss stellten die Schüler die wieder entzündeten Kerzen vor der Treppe der einstigen Synagoge auf. Dahinter der Schriftzug »Unvergessen«. Bürgermeister Dirk Haas sagte: »Die renovierte Synagoge macht Hoffnung, dass das, was vor 83 Jahren geschehen ist, nicht vergessen wird. Nie wieder soll es geschehen!« Haas baute die Brücke vom Gedenken an die Verbrechen von einst zu denen von heute, denn: »Antisemitismus ist noch immer in unserer Gesellschaft vorhanden.« zy

In Holzheim erinnerte Pfarrer Matthias Bubel am Gedenkstein im Kirchgarten an die Nacht vor 83 Jahren. Er gedachte der zwölf Frauen und Männer aus Holzheim, die 1942 in das Vernichtungslager Treblinka und ins Ghetto Theresienstadt geschickt wurden. Diesem Teil der deutschen Geschichte habe man sich zu stellen. Im nächsten Jahr wird die evangelische Kirchengemeinde Holzheim Stolpersteine zur Erinnerung an jüdische Mitbürger vor deren ehemaligen Häusern verlegen. Konfirmanden verlasen zum Gedenken die Fürbitte. rge

In Lich hielt Pfarrerin Sylvia Grohmann die Andacht in der Marienstiftskirche, Konfirmanden entzündeten am Gedenkstein Kerzen zur Erinnerung an die jüdischen Familien der Stadt. Rund 70 Bürger waren gekommen. Sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, erfordere Herz und Mut, sagte Grohmann. Die Beantwortung der Frage, warum niemand geholfen habe, helfe, sich in Gegenwart und Zukunft richtig zu verhalten. Angesichts der steigenden Zahl von Angriffen auf jüdische Bürger und Synagogen gebe es das Erschrecken vor der Gewalt der einen, und das Erschrecken vor dem Schweigen der anderen. Die Pfarrerin zitierte die 100-jährige Holocaust-Überlebende Trude Simonsohn aus Frankfurt: »Lernt, zu Unrecht ›Nein‹ zu sagen. Lernt, nicht zu schweigen.« Bürgermeister Julien Neubert sagte: »Erinnerung ist der Weg, dass so etwas nie wieder passiert.« Abschließend betete man, um Kraft zu bekommen, für eine tolerante Gesellschaft einzutreten. age

In Laubach kamen die Menschen an der Gedenkstele auf der »Helle« zusammen. Ein Schweigemarsch führte zum jüdischen Friedhof. Bürgermeister Matthias Meyer begrüßte es, dass sich so viele Menschen an einem Tag der Erinnerung eingefunden hatten. Beim besorgniserregenden aktuellen Aufkommen rechtsradikalen Gedankenguts sei es notwendig, diesem mit Zivilcourage keine Chance zu lassen. Hier seien nicht nur Staat und Kirchen gefordert, sondern jeder einzelne Bürger. Im Namen der Friedenskooperative Grünberg-Laubach-Hungen begrüßte Barbara Sinner zum Mahngang. Auch in Laubach hatte es Gewaltexzesse gegeben, Fensterscheiben waren zu Bruch gegangen, Möbel und Geschirr landeten auf der Straße. Unter lautem Johlen wurde die Synagoge leer geräumt, Gebetsrollen und Kultgegenstände landeten auf einem Leichenwagen, wurden zur Helle gebracht und verbrannt. In Laubach sei lange über diese Ereignisse geschwiegen worden. Erst seit 1988 werde in der Stadt die Erinnerung wachgehalten. Pfarrer Jörg Niesner betonte, »kein Antisemitismus, kein Antijudaismus noch irgendeine Form von Rassismus und Ausgrenzung hat hier Platz«. Immer und überall solle konsequent Einspruch erhoben werden, wo rassistische Worte fallen. Das sei unsere Verantwortung. Konfirmanden verlasen die Namen der Laubacher Juden und legten weiße Nelken unter ihre Namenstafeln an der ehemaligen Synagoge. dis

In Allendorf/Lumda hatten die evangelische Kirchengemeinde und die örtliche Politik zum Mahngang geladen. Pfarrer Stefan Schröder bat, Gedenktage als Impulstage zu verstehen. Es solle der Impuls ausgelöst werden, über andere Kulturen und Religionen nachzudenken. Jeder Mensch sehne sich nach Wohlstand, Liebe und Frieden. Schröder: »Wir sollten versuchen, dem anderen gerecht zu werden.« Brigitte Heilmann (Vorsitzende des Sozialausschusses) erinnerte daran, dass 1938 die Menschen in Allendorf weggeschaut hätten, als aus den jüdischen Häusern Hausrat rausgeworfen und aus der Synagoge die Kultgegenstände entfernt wurden. Im September 1942 habe das jüdische Leben in Allendorf mit der Deportation der letzten Juden geendet. Heilmann: »Ein unfassbarer Tiefpunkt der Allendorfer, der deutschen Geschichte«. Die Gruppe ging die Häuser ab, in denen jüdische Bürger gewohnt hatten, und passierte die ehemalige Synagoge in der Nordecker Straße. An der Gedenkstätte am Rosenplatz wurden Lichter entzündet und nach jüdischer Sitte Steine auf die Stelen gelegt. vh

Impressionen vom Gedenken in Holzheim, Allendorf und Buseck. FOTOS: RGE,VH,ZY

so_gedenkallen_101121_4c
so_gedenkallen_101121_4c © Volker Heller
pax_1445gedenken_111121_4c
pax_1445gedenken_111121_4c © Roger Schmidt

Auch interessant

Kommentare