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Renate Hebau berichtete in Großen-Buseck über Ghettohäuser

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Buseck (vh). Am Montag, wenige Tage nach dem Jahrestag der Pogromnacht am 9./10. November 1938, berichtete die in Frankfurt am Main lebende Journalistin Renate Hebauf über einen eher unbekannten Aspekt der Judenverfolgung, die »Ghettohäuser«.

Buseck (vh). Am Montag, wenige Tage nach dem Jahrestag der Pogromnacht am 9./10. November 1938, berichtete die in Frankfurt am Main lebende Journalistin Renate Hebauf über einen eher unbekannten Aspekt der Judenverfolgung, die »Ghettohäuser«. Wer meint, über das Schicksal jüdischer Mitbürger zur Zeit des Nationalsozialismus sei alles schon gesagt, wird immer wieder dazu lernen. Der Zufall wollte, dass Hebauf 1978 als Studentin im Frankfurter Nordend in der Gaußstraße 14, in ein viergeschossiges Wohnhaus der Gründerzeit, einzog. 2006 wurde dort ein »Stolperstein« verlegt. Eine Spur führte Hebauf nach Großen-Buseck. Sie berichtete in der »Alten Schmiede« über die jüdische Familie Berlin.

Grund genug für den Heimatkundlichen Arbeitskreis Buseck, die Landfrauen Großen-Buseck und das Archiv der Gemeinde Buseck, die Autorin zu einer Lesung und Buchpräsentation einzuladen.

Renate Hebauf hat ihre Wohnadresse nicht verändert, erst recht, nachdem sie bereits Anfang der 80-er Jahre dem düsteren Geheimnis auf die Schliche gekommen war und vor wenigen Tagen das Buch »Gaußstraße 14. Ein ‘Ghettohaus’ in Frankfurt am Main« veröffentlicht (CoCon-Verlag, Hanau). Es handelt von gut 60 Biografien jüdischer Hausbewohner zwischen 1912 und 1945. Exemplarisch referierte die Autorin über das Schicksal einer Bewohnerin, Fanny Joelson (verwitwete Krämer, geborene Berlin), die 1901 in Großen-Buseck, im Haus Kaiserstraße 1 geboren wurde.

Nach der Pogromnacht flüchteten Mitglieder der Großen-Busecker Familie Berlin nebst Fanny Krämer und ihrem Ehemann Rudolf Krämer (Heirat: 1930) in die Mainmetropole und bezogen im Dezember 1938 eine Wohnung in der Gaußstraße. In so genannten Ghettohäusern wurden jüdische Mitbürger getrennt von der übrigen Bevölkerung auf engstem Wohnraum zusammengepfercht. Auch Juden aus den umliegenden Kleinstädten und Dörfern wurden hier untergebracht.

Das Ehepaar Krämer wurde an seinem Hochzeitstag, dem 16. März 1943, nach Theresienstadt deportiert. Fanny überlebte, kehrte im August 1945 nach Frankfurt zurück, wanderte 1947 in die USA aus, lebte bis zu ihrem Tod (sie starb 94-jährig) in New York, wo sie auch ihren zweiten Ehemann Louis Joelson fand.

Hebauf stellte zu Beginn ihres Vortrags eine der Kardinalfragen zu den Wirkungsmechanismen der NS-Zeit: Wie es passieren konnte, dass eine seit dem 19. Jahrhundert in die Dorfgemeinschaft integrierte jüdische Familie binnen kurzer Zeit ausgegrenzt werden konnte.

Der Terror gegen die Berlins habe 1930/1931 begonnen. Fannys Geburtshaus gehörte den Großeltern Josef Berlin und Malchen (geb. Nussbaum). Ihr Sohn Bernhard (Fannys Vater) eröffnete 1895 im Elternhaus ein Ladengeschäft für Textilien, Möbel und Nähmaschinen.

Es folgte der Neubau eines Geschäfts- und Wohnhauses in der Kaiserstraße 24 in den Jahren 1901/1902. Fanny besuchte die Großen-Busecker Dorfschule am Anger, danach die Höhere Mädchenschule in Gießen. Ab 1933 habe sich kaum noch jemand in das Geschäft der Berlins getraut, sagte Hebauf. Örtliche NSDAP-Aktivisten einschließlich des Bürgermeisters Rebholz, hätten die Familie mit immer neuen Schikanen drangsaliert. Am 10. November 1938 seien Geschäft und Wohnung komplett verwüstet worden, einschließlich Plünderungen.

Autorin Hebauf recherchierte für die Chronik bis in die USA, wo Fanny Joelson als mutmaßlich einzige überlebende Zeitzeugin der Gaußstraße 14 ihr begegnete und sie 1986 sogar in Frankfurt besuchte. Einzige Überlebende der aus Großen-Buseck stammenden Berlins soll die Ehefrau von Fannys Bruder Julius, Anni Berlin, sein. Sie wohne in Gießen und sei zum Vortragstermin unpässlich gewesen, so Hebauf.

Ilse Reinholz-Hein, Archivbetreuerin der Gemeinde Buseck, gab als Einstieg zu Hebaufs Vortrag eine kurze Einführung in die Geschichte der Juden im Busecker Tal, die um 1560 wahrscheinlich in Trohe begonnen habe. Der hessen-darmstädtische Minister Friedrich Carl Moser habe 1776 das Busecker Tal als »Klein Palästina« bezeichnet, damals wohnten hier rund 63 jüdische Familien. Seit dem 18. Jahrhundert sind Synagogen belegt. In Großen-Buseck zunächst in der Kaiserstraße 7, dann am Anger 10. Der vermutlich schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts angelegte jüdische Friedhof zwischen Großen- und Alten-Buseck ist mit etwa 180 Grabsteinen einer der größten der Umgebung. (Foto: vh)

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