Offene Gesellschaft vielfach bedroht

Buseck (jwr). Ob online oder offline: Antidemokratische Tendenzen, Hass und Hetze nehmen zu, bedrohen den freiheitlichen Rechtsstaat und die pluralistische Gesellschaft. Inwiefern spiegelt sich das auch im Kreis Gießen wider? Und wie lässt sich damit umgehen? Auch diesen Fragen sind am Mittwoch gut 60 Teilnehmer der Arbeits- und Vernetzungstagung »Demokratie und Toleranz im Landkreis Gießen fördern« nachgegangen - nach einer Online-Ausgabe 2021 nun wieder in Präsenz im Busecker Kulturzentrum.
Mit dabei waren Bürgermeister und weitere Vertreter aus der Kommunalpolitik sowie Engagierte aus den Bereichen Jugendpflege, Sozialarbeit und Schule. Eingeladen hatte die Fachstelle für Demokratie und Toleranz als Teil der Kreis-Jugendförderung.
»Krisen führen häufig dazu, dass antidemokratische Kräfte Auftrieb erhalten«, so Julia Erb von der Fachstelle. Es gelte, das »Abdriften in extreme Lager« zu verhindern. Dass auch im Kreis Gießen mit Worten und Taten demokratische Werte verneint werden, zeigt erneut das Monitoring »demokratiefeindlicher Vorkommnisse« für das vergangene Jahr. Basis sind, wie Fachstellen-Vertreterin Nele Fritzsche erläuterte, Medienberichte, Polizeimeldungen und Dokumentationsbögen, über die Fälle gemeldet werden.
Abgrenzung nach rechts fehlt
Ein Schwerpunkt waren 2021 Proteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen - laut Fritzsche »legitim«, aber auch eine potenzielle Bühne für rechtsextreme Propaganda. So gab es im Januar einen »Info-Stand« in Gießen, getragen von der Telegram-Gruppe »Gießen für Freiheit«, wo auch antisemitische Äußerungen zu finden seien. Bei einem von der Polizei aufgelösten Aufzug durch die Gießener Innenstadt am 20. Dezember hat sich laut dem Monitoring eine Ortsgruppe von »Studenten stehen auf« hervorgetan, die auch durch NS-Verharmlosung aufgefallen sei. Anfang 2022 habe man einen »massiven Anstieg« der Teilnehmerzahlen bei Corona-Protestaktionen verzeichnet - etwa bei einem »Montagsspaziergang« in Grünberg mit 400 Personen, aber auch in anderen Kreiskommunen. Gegenprotest, so Fritzsche, sei allmählich gewachsen. Auch die NPD und die rechtsextreme Kleinpartei »der III. Weg« hätten die »Spaziergänge« beworben. Dies verdeutliche, dass es an einer Abgrenzung nach rechts mangle.
Etliche Beispiele zeigen Demokratiefeindlichkeit ohne Corona-Bezug: Im Januar 2021 wurde in Staufenberg ein »Toleranz-Schild« am Ortseingang aus der Verankerung gerissen - weitere solcher Schilder waren zuvor in Allendorf (Lumda) gestohlen worden. Wahlplakate für die Ausländerbeiratswahl wurden im Februar in Linden entfernt, im Juli in Langgöns ein Mann rassistisch beleidigt und geschlagen. Das Monitoring beinhaltet sechs Fälle von Hakenkreuz-Schmierereien und weitere mit antisemitischem Bezug. Auch vier Fälle von Trans-, Queer-, und Homofeindlichkeit werden genannt, ferner rund zehn rassistische Vorfälle und zwei Hausdurchsuchungen im Kontext der Reichsbürger-Ideologie. Die Spannbreite ist groß. Neuerdings bereitet der Fachstelle auch ein Anstieg von Diskriminierungen »russisch gelesener Menschen« Sorge.
Insgesamt listet das Monitoring, jenseits von Corona-Protesten, für 2021 kreisweit 31 Fälle auf, exakt so viele wie im Vorjahr - wobei die Zahl allein wenig aussagt: Der Kreis verbucht freilich nur, wovon er Kenntnis erlangt, Fritzsche geht von einer »hohen Dunkelziffer« aus. Auch könnte die Bereitschaft, Vorfälle zu melden, gestiegen sein. Es sei ein »sehr sensibles Thema«, mitunter hätten Betroffene oder etwa Schulen Bedenken, Vorfälle öffentlich zu machen.
Auch Gegenbeispiele waren diesmal Teil der Agenda: Unter dem Stichwort »prodemokratische Aktivitäten« präsentierten Vertreter der Lollarer Clemens-Brentano-Europaschule und der Theo-Koch-Schule in Grünberg Projekte, die die NS-Gräuel aufgreifen: In Lollar wurde in einem Projekt in Kunst und Geschichte untersucht, wie die NS-Zeit nach 1945 aufgearbeitet wurde - oder eben auch nicht. Und in Grünberg hat eine Gruppe die Biografien von jüdischen Schülern bis zur NS-Zeit recherchiert. Nicht zuletzt als Mahnung für die Zukunft.