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»Jüdisches Leben im Busecker Tal« thematisiert

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Buseck (vh). »Jüdisches Leben im Busecker Tal« war Thema eines Vortrags von Monica Kingreen am Dienstagabend im Busecker Kulturzentrum am Schlosspark. Im Kulturzentrum am Schlosspark verfolgten über 100 Zuhörer aller Alterstufen ihren Vortrag.

Kingreen ist Lehrerin, Diplom-Bauer-Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt sowie Lehrbeauftragte am Seminar für Didaktik der Geschichte der Goethe-Universität Frankfurt. Sie forscht und referiert zu den Arbeitsschwerpunkten jüdische Lokal- und Regionalgeschichte Hessens vor 1933 und in der NS-Zeit und berät Heimatforscher und Initiativen zu Gedenkprojekten bei der Spurensuche zum jüdischen Leben und bei Recherchen nach den Schicksalen jüdischer Familien.

Freilich konnte der Vortrag nur ein Streifzug durch das 19. und 20. Jahrhundert sein. Im steten Wechsel tauchten dabei Handlungsorte, Zeiten und Personen aus der Lokalhistorie auf. Einige Namen erwähnte Kingreen mehrfach. Manchmal meinte der Zuhörer, er befinde sich inmitten der Ereignisse.

Die früheren Juden des Busecker Tals wurden plötzlich konkret, hießen Katz, Friedenwald, Griesheim, Berlin oder Edelmut. Sie standen als solche vor dem geistigen Auge des Zuhörers, wurden insofern lebendig. Wegen des deutlich betonten Zusammenhangs von Namen und ihrer Geschichten wurde der Abend zu einer Informations- und Gedenkveranstaltung gleichermaßen.

Veranstalter waren die neu gegründete Arbeitsgruppe »Anger 10«, die Friedensgruppe Buseck, die Gesamtschule Busecker Tal, die SPD Großen-Buseck, die Busecker Grünen und die Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung. Bürgermeister Erhard Reinl sprach von der sensiblen Gedenkveranstaltung zum 9. November 1938 der IGS und erwähnte die Unfassbarkeit des damaligen Geschehens.

Als jüdische Deutsche gefühlt

Martha Kuhl-Greif von der Friedensgruppe sprach der ehemaligen Synagoge von Großen-Buseck (Gebäude Anger 10) und dem jüdischen Friedhof in ihrer Bedeutung für Großen-Buseck dieselbe Rolle zu wie Schloss und Park. Anger 10 und Thal’sches Rathaus stünden zentral im alten Ortskern.

Monica Kingreen beschrieb zunächst Alltägliches aus dem Leben der jüdischen Bevölkerung. Sie hätten mit den Ortsbauern Handel getrieben, Agrarprodukte verkauft und auch selbst Landwirtschaft betrieben. Ihre Mentalität sei durch solides Wesen und etwas deftige Handlungsweise gekennzeichnet gewesen. Sie hätten sich selbstbewusst als jüdische Deutsche gefühlt. Als Teil der Gesellschaft sei bloß die Heirat in christliche Familien nicht möglich gewesen, Funktionen in der Politik und in Vereinen dagegen schon.

Jüdische Bürger hätten auch kleine Geschäfte geführt oder seien als Hausierer unterwegs gewesen. Das Verhältnis zu den deutschen Nachbarn sei eng gewesen. Gegen antisemitische Äußerungen habe man sich gewehrt. Erst nach 1933 sei die geglückte Integration in einem schleichenden Prozess aufgelöst worden.

Jüdisches Gemeindeleben war in Großen-Buseck, Alten-Buseck, Beuern, Reiskirchen, Burkhardsfelden und Rödgen präsent, baulich auch durch Synagoge, Schule, Gemeindesaal, Matzenbäckerei und Friedhof. 1905 seien der jüdische Emanzipationsprozess in Deutschland abgeschlossen, das volle Staatsbürgerrecht und die volle Freizügigkeit (Wohnortwechsel) erreicht gewesen.

Juden seien in die Städte gezogen, um dort ihr Glück zu machen. Zu dieser Zeit habe der Anteil jüdischer Bürger an der Bevölkerung des Deutschen Reiches ein Prozent betragen, im Busecker Tal je nach Ortschaft zwischen zwei und vier Prozent.

Kingreen scheute sich nicht, auf den »sehr prekären Zustand« des 1750 angelegten jüdischen Friedhofs in Großen-Buseck hinzuweisen. Auf 3000 Quadratmeter verteilten sich 180 Grabsteine. Als Folge von Gewalteinwirkungen lägen etliche um oder hingen schräg, die Inschrift vermoose. Kürzlich sei aber im Busecker Rathaus das Thema aufgegriffen worden. In Zusammenarbeit mit dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Hessen und dem Regierungspräsidium Gießen soll eine Lösung herbei geführt werden.

Im weiteren Vortragsverlauf informierte Kingreen über die jüdischen Gemeinden im einzelnen. Abschließend kamen die NS-Zeit und der 9. November 1938 an die Reihe. Obwohl es auf dem Lande schwierig gewesen sei, das gute Verhältnis zu untergraben, hätten das die Nazis auch im Busecker Tal geschafft. Freunde und Nachbarn von einst hätten plötzlich den Gruß nicht mehr erwidert. Besonders gefährdet seien die jüdischen Schulkinder gewesen. Zu dieser Zeit sei in Bad Nauheim die jüdische Bezirksschule entstanden, wo jüdische Kinder lebten und beschult wurden.

Namen der 61 Opfer verlesen

Viele Juden hätten die Flucht nach Frankfurt dem Verbleib vorgezogen. Exemplarisch erläuterte Kingreen das Schicksal der Familie Berlin in der Kaiserstraße. Vor zwei Jahren hatte die Frankfurter Journalistin Renate Hebauf in der »Alten Schmiede« über jüdische »Ghettohäuser« referiert und hierbei genau jene Familie Berlin heraus gegriffen.

Nachdem sie 61 Namen verlesen hatte, die dem Nazi-Terror im Busecker Tal zum Opfer gefallen waren, schloss Kingreen mit den Versen »Jeder Mensch hat einen Namen« der israelischen Dichterin Selda. Auf Bitte einer Zuhörerin erhob sich das Publikum zu einer Schweigeminute. Währenddessen verlas Kingreen noch einmal das Gedicht.

Am 4. Dezember um 20 Uhr findet im Lehrerzimmer der Gesamtschule Buseckertal ein Treffen statt zur Vorbereitung auf die erste »Stolperstein«-Aktion in Großen-Buseck. Die von den Gesamtschülern vorgetragenen Texte zu den jüdischen Familien des 9. November hängen zurzeit in den Schaukästen am Anger und sollen am Busecker Samstag bewusst in den Mittelpunkt gerückt werden.

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