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Flucht, Exil, Rückkehr: Vortrag über Julius Berlin in Buseck

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Buseck (vh). Der einzige jüdische Bürger Busecks, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Bewohner hierher zurückkehrte, Julius Berlin, stand am Dienstagabend im Mittelpunkt eines Vortrags von Carl Philipp Sontag im Großen-Busecker Kulturzentrum am Schlosspark.

Der gebürtigte Großen-Busecker Berlin entkam den Nationalsozialisten 1933 durch eine abenteuerliche Flucht über das Saarland, Frankreich, Argentinien und Uruguay bis nach Brasilien. Knapp drei Jahrzehnten später kehrte der gelernte Textilkaufmann wieder nach Großen-Buseck zurück, heiratete 1971 die um 19 Jahre jüngere Rosa Anni Müller, zog nach Gießen um wo Julius Berlin 1993 im Alter von 87 Jahren verstarb. Er liegt auf dem Gießener jüdischen Friedhof begraben.

Im Jahr des 20. Todestags ergab sich jetzt die Gelegenheit, etwas mehr Licht ins Dunkel um die alteingesessene Großen-Busecker Familie Berlin zu bringen. Zum wiederholten Mal wenn es um die ehemaligen Busecker Juden und an erster Stelle die Berlins ging, war das Interesse riesengroß. Im Kulturzentrum saßen gut 100 Zuhörer, und sie vervollständigten das Geschichtsbild durch eigene Beiträge in großer Zahl. Eingeladen hatten die Friedengruppe Buseck, die Arbeitsgruppe Anger 10 – ehemalige Synagoge, die Busecker Sozialdemokraten und Grünen. Beate Allmenröder übernahm die Begrüßung, während Markus Ihle den Abend moderierte.

Allein das Zustandekommen des Vortrags warf ein Schlaglicht auf exemplarisch guten Geschichtsunterricht, denn Carl Philipp Sontag, heute Student der Ingenieurwissenschaften in Gießen, hatte mit diesem Schulfach eigentlich nicht viel am Hut. Aber: Anlässlich einer Klassenfahrt des Zehntklässlers zum ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald hatte der Lehrer das Unterrichtsziel ausgegeben, im Buchenwald-Archiv nach Namen aus der mittelhessischen Region zu suchen. Sontag fand Meier Berlin, 1875 in Großen-Buseck geboren und 1938 im KZ Buchenwald ermordet.

Umfangreiche Quellenstudien

Meier Berlin war der Bruder von Julius» Vater Bernhard Berlin. Betroffen von einem konkreten Fall eines geschichtlichen Zusammenhangs von Buseck mit Buchenwald verfasste der Schüler ein kleines Werk, um nach allerlei Recherchearbeit daraus die besondere Lernleistung seines Abiturs im Fach Geschichte zu gestalten.

Fingerdick ist das Werk geworden. Zielgerichtet sollte die Geschichte der Juden im damaligen »Klein-Palästina«, wie das Busecker Land aufgrund eines überdurchschnittlichen Anteils jüdischer Bevölkerung auch genannt wurde, am Beispiel der Familie Berlin erforscht werden. Einzig Fragmente habe er vorgefunden, sagte Sontag und vor allem das Schriftliche vermisst. Zeitzeugengespräche in Großen-Buseck hätten sich als schwierig erwiesen. Sontag hat weitere Dokumente aus Buchenwald ausgewertet, das Staatsarchiv Thüringen bemüht, das Frankfurter Bürgeramt, hat Archivleiter im Busecker Land und über ganz Deutschland verstreut befragt, letztlich auch mit Anni Berlin, der in Gießen lebenden Witwe, gesprochen. Und er hat vorliegende Zeitzeugeninterviews zur Recherche erhalten. Etwa das von der Frankfurter Journalistin Renate Hebauf, die Julius» Schwester Fanny Berlin in New York (dort 1996 verstorben) aufgesucht hatte. Hebauf hatte schon in der »Alten Schmiede« zum Thema jüdische »Gettohäuser« mit Bezug auf die Familie Berlin referiert. Auch der Vorjahresvortrag von Monica Kingreen als Mitarbeiterin des Fritz-Bauer-Instituts Frankfurt über »Jüdisches Leben im Busecker Tal« widmete sich teilweise der Familie Berlin.{newPage}

Mitbegründer von Vereinen

Vortrag und Wortbeiträge des Publikums ergaben ein ungefähres Bild von Julius Berlin. Einiges wusste Erich Hof, SPD-Vorsitzender in Großen-Buseck, aus einem persönlichen Gespräch mit Julius Berlin (1987). Nicht alle Geheimnisse konnten gelüftet wurden, denn direkte Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben und selbst Julius’ Witwe kannte offenbar nicht das gesamte Leben ihre Ehemanns, der 1906 in Großen-Buseck als Sohn des Ehepaars Bernhard und Frieda geb. Freimark zur Welt kam.

Der jugendliche Julius Berlin stand politisch links, mit Nähe zur SPD und KPD. Kontakte zu Gießener linken Parteikreisen gab es, und sie hatten schon mal handfeste Auseinandersetzungen zur Folge. Offenbar erkannte Berlin als Mensch mit dem Hang zur Rebellion früh das heraufziehende Unheil der ausgehenden Weimarer Republik.

Berlin interessierte sich wohl auch für Sport und Gesang, denn er gründete den Fußballclub 1926 mit und den Arbeitergesangverein Eintracht. Berlin. Er hatte bis dahin keinen Grund an seiner Sicherheit zu zweifeln. Sein Vater galt als angesehener Geschäftsmann mit Auszeichnungen im Ersten Weltkrieg. Doch ging die zunehmende Machtfülle der Nationalsozialisten im Busecker Land an Berlin nicht vorbei. Aus dem Jahr 1933 ist eine Kundgebung auf dem Anger verbürgt, bei der eindeutige Worte von einer »germanischen Hinrichtung« gegen Berlin fielen. Aus dem Freundeskreis wurde ihm zugeflüstert, zu fliehen. Dies geschah unverzüglich aber mittellos.

Vermutlich mit Gelegenheitsarbeiten schlug er sich durch. Überliefert ist der Job als Türsteher in einem Bordell. Ob Berlin in der Ferne Fuß fassen konnte, bleibt offen. Kontakte in die Heimat blieben aber wohl erhalten. Es heißt, Otto Wagner, bekannt unter »Zigarren Wagner«, habe ihn nach seiner Rückkehr in Großen-Buseck unterstützt.

Warum es Berlin überhaupt nach Deutschland und sein Heimatdorf zog und nicht etwa zur Schwester Fanny nach den USA, weiß man nicht. Allgemein werden eine starke heimatliche Verbundenheit vermutet. Jedenfalls trat Berlin Ende der 60er Jahre in die SPD ein und wurde 1964 auf der Hauptversammlung des FC 1926 zum Vorsitzenden gewählt. Dies weil Not am Mann war, der Posten vakant geblieben wäre.{newPage}

1965 wechselte der Vorsitz schon wieder. Schwester Fanny besuchte ihn 1968 mit dem Vorschlag, ihr nach Amerika zu folgen. Berlin lehnte ab. Beruflich waren die Folgejahre kein Zuckerschlecken. Als fahrender Händler für Textilien hatte Berlin wenig Erfolg, versuchte sich als Wachmann in Lindenstruth und Tankwart in Gießen.

Historisches Material erwünscht

Mit dem Tod der einzigen Überlebenden, der Geschwister Julius (18. Dezember 1993) und Fanny (15. September 1996), endete auch die Geschichte der vormaligen Großen-Busecker Familie Berlin.

Diskussionsergebnisse betrafen die alte Synagoge Am Anger 10, die der Arbeitskreis am liebsten zu einem Dokumentations- und Forschungszentrum für Schulklassen und Private ausbauen möchte. Falls in Buseck weitere Zeitzeugen noch Details zur Familie Berlin wüssten oder vielleicht alte Briefe hätten, würde sich der Arbeitskreis über einen Kontakt freuen. Auch Martha Kuhl-Greif, die im Saal Plakate und Dokumente zur Familie Berlin ausgelegt hatte, wäre dankbar für die Überlassung von historischem Material, gleichgültig ob zur jüdischen Vergangenheit oder sonstigen Themen. (Foto: vh)

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