Bitteres Ende nach 50 Jahren

Ottmar Behrendt trug 36 Jahre als Betriebsleiter Verantwortung für ein Unternehmen, das ein halbes Jahrhundert bis zu 80 Menschen ein gutes Auskommen bot: Emde Ladenbau in Seenbrücke. Der 89-Jährige weiß viel zu erzählen über einen (fast) vergessenen Ort. Denn seit Mitte der Nullerjahre, nach der Insolvenz, ist Emde Geschichte. Heute kann man hier Lagerflächen, Garagen und Stellplätze mieten.
Ab 1955 eine bekannte Adresse unter den Oberen Zehntausend: Juwelier Hülse, Mommsenstraße 11, Berlin-Charlottenburg. Hier, nur einen Steinwurf vom Kurfürstendamm entfernt, kauften gut betuchte Herren sündhaft teure Klunker für hochgestellte Damen. Die Geschäfte des Erich Hülse liefen blendend, und so eröffnete er bald auch in Hamburg und Baden-Baden Dependancen.
Mommsenstraße 11 - die Adresse war auch in Seenbrücke wohlbekannt: »Hülse«, antwortet Ottmar Behrendt, fragt man ihn nach den bekanntesten Kunden »seiner« Firma Emde. Verkaufstresen, Regale und Schränke stellte die her. Hochwertige Einzelanfertigungen, nichts von der Stange. Hauptkunden waren neben Juwelieren Optik- und Uhrengeschäfte, geliefert wurde in die ganze Republik.
Der 89-Jährige ist die richtige Adresse, will man mehr erfahren über ein bedeutendes Kapitel Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Grünberger Raum. Geistig sehr rege, sprudelt er nur so los, fragt man ihn nach Aufstieg und Fall der Firma, die einen Großteil seines beruflichen Lebenslaufs geprägt hat.
Geboren am 1. Juni 1932 in Warburg, erlernte er den Schreinerberuf, landete Anfang der 50er-Jahre in Schwelm, im Betrieb von Wilhelm Emde. Warum gerade da? Als begnadeter Fußballer wollte und sollte er dann auch beim FC Schwelm 06 kicken, der 1952 in der seinerzeit höchsten Amateurliga spielte.
Sein Chef nur bekam alsbald ein Problem, da ihm der Pachtvertrag für seine Produktionsstätte gekündigt wurde. »Er ist dann in ganz Deutschland rumgeeiert, immer auf der Suche nach einem neuen Standort.«
Wilhelm Emde hatte zunächst eine »normale« Schreinerei gegründet. Mit Blick auf die vom Krieg zerstörten Städte im Ruhrgebiet verlegte er sich auf Ladeneinrichtungen. »Er wusste, da ließ sich was verdienen.« Zumal er ein sehr geschickter Entwerfer gewesen sei, etwa neuartige Verkaufstresen entwickelt habe.
1955 wurde Emde im vorderen Vogelsberg fündig. Wie Behrendt erzählt, kaufte er die Gebäude der »Matratzen- und Polstergesellschaft« (Matrapol).
Die hatte in Seenbrücke das Anwesen erstanden, das zunächst von der Weberei Roth errichtet, dann an den Büromöbelhersteller Müller gegangen war. »Erst war Roth pleite, nach der Währungsreform dann auch Müller.« Matrapol ging zurück nach Gießen - Emde konnte loslegen.
Zunächst aber galt es, die viel zu niedrigen Räume der alten Weberei im Untergeschoss zu erweitern: »Der Betonboden wurde rausge-stemmt, das Erdreich um 80 Zentimeter ausgekoffert«. Erledigt wurde der Knochenjob auch von Neubürgern: Sudetendeutsche, die in Seenbrücke - bislang kaum mehr als ehemaliger Bahnhof für Erztransporte - gebaut hatten.
Richtig los ging’s am 1. April 1956 - mit gerade mal vier Schreinern. Doch schon bald wuchs die Belegschaft. Zupass kam das große Potenzial an Berufskollegen in der Umgebung, vor allem vom Treppenbauer Jäger in Queckborn kamen neue Kräfte.
»Das war ein unkontrollierter Handwerksbetrieb«, beschreibt Behrendt, der inzwischen seinen Meister gemacht hatte, die Anfangszeit. Emde holte sich daher eine Unternehmensberatung ins Haus. Eines Tages dann erreichte ihn die Ansage: »Du sollst rauf zum Chef.« Um es kurz zu machen: Er kletterte die Karriereleiter hoch, war zunächst »zweiter Mann«.
Als sein Vorgesetzter 1958 ausschied, trat er, gerade 26 Jahre alt, an dessen Stelle. Und staunte Bauklötze, als er in die erste Lohntüte schaute: 860 Mark, dreimal so viel wie damals ein Schreiner verdiente.
»Der Chef sagte zu mir: ›Du baust den Laden auf‹. Ab da hatte ich freie Hand, habe den Betrieb gehegt und gepflegt, als wenn’s mein Eigentum gewesen wäre.«
Behrendt restrukturierte das technische Büro, in dem hauseigene Innenarchitekten die auf jeden einzelnen Kunden abgestimmte Ladeneinrichtung entwarfen. Er kümmerte sich um Einkauf, Arbeitsvorbereitung, Vertrieb - brachte den Betrieb in die Erfolgsspur. Sozusagen nebenher machte er seinen Abschluss als Holzingenieur, hängte auch noch ein Fernstudium in Architektur dran.
Nach und nach wuchs Emde, in der Spitze auf rund 80 Mann - vor allem Schreiner, aber auch Techniker, Betriebsschlosser, Glasschleifer. Zurecht mit Stolz fügt Behrendt an: »In meiner Zeit haben wir allein rund 100 Lehrlinge ausgebildet.«
Die Geschäfte florierten, auch unter Hanna Emde-Baron. Anfang der 60er hatte sie das Unternehmen übernommen, nachdem ihr Vater gestorben war. Spätfolge eines Unfalls, den er mit seinem Opel »Admiral« kurz vor Grünberg gebaut hatte.
Unter Behrendts Leitung überstand der Betrieb auch die Rückschläge, die die Ölkrise in den 70ern mit sich brachte. Viele Aufträge waren storniert worden. Bitter auch für ihn: »20 Leute wurden entlassen.« Doch ging es wieder bergauf, bald hatte man wieder den alten Personalbestand.
Zu dem jedoch gehörte ab 1994 nicht mehr der erfahrene Betriebsleiter: Eine Lösungsmittelallergie zwang den damals 62-Jährigen zum Ausscheiden. Was er bis dahin allein geschultert hatte, übernahmen nun drei Mann.
Die Geschäfte aber gingen schlechter, Anfang der Nullerjahre dann der Konkurs. Nach Behrendt vor allem wegen Mängeln in der innerbetrieblichen Organisation, was sich etwa an Regressforderungen von Kunden geäußert habe, die aufgrund verspäteter Auftragsausführung hohe Einnahmeausfälle erlitten. »Das war eigene Dummheit. Eine Firma mit solchen Spitzenprodukten und Spitzenschreinern hätte niemals pleite gehen müssen.«
Emde wurde vom Büromöbelhersteller CEKA übernommen, doch währte der Versuch nicht lange: ums Jahr 2006 war endgültig Schluss.
Ottmar Behrendt und Ehefrau Erika hatten zu dieser Zeit das Kapitel schon lange für sich abgeschlossen. Auch geografisch, startete das Paar doch 1995 zu einem dreijährigen Segeltörn um die halbe Welt. Danach hatten sie, um im Bild zu bleiben, den Anker geworfen, verbringen nun ihren verdienten Lebensabend am Kahlsberg in Klein-Eichen.