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Besuch aus Argentinien

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Von: Nastasja Akchour-Becker

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An der Kaffeetafel im Gespräch über die deutsche Geschichte (v. l): Brigitte und Günter Block, Federico, Claudia und Gabriel Lubelsky, Pfarrer Hans Peter Gieß, Bürgermeister Dr. Julien Neubert, Cilli Kasper-Holtkotte und Alejandro Lubelsky. © Nastasja Akchour-Becker

Lich (nab). Die Jüdin Siddy Lubelsky war als 82-Jährige im Jahr 1994 auf Spurensuche in Langsdorf. Damals lebte die mittlerweile Verstorbene für zwei Wochen bei Familie Block. Nun waren ihre Nachkommen aus Argentinien zu Gast.

Siddy Lubelsky wurde am 28. November 1911 in Langsdorf geboren, doch die geschichtlichen Ereignisse zwangen sie dazu, im Dezember 1933 zu flüchten. Die 22-Jährige hatte bis dahin die Schule in Lich besucht, in Gießen Abitur gemacht und dann im Möbel-, Nähmaschinen- und Fahrradladen ihrer Eltern, Sidonie und Isaak Nelkenstock, in Langsdorf gearbeitet.

Ihr Weg führte sie zunächst nach Luxemburg, später nach Paris und letztendlich nach Argentinien. Noch in Europa lernte sie ihren polnischen Ehemann kennen. »Er war sehr traumatisiert von der Verfolgung, sodass sie erst nach seinem Tod wagte, Deutschland wieder einen Besuch abzustatten«, erinnern sich die Langsdorfer an ihren Besuch.

1994 Gespräch mit Konfirmanden

Vor 28 Jahren hatte Siddy Lubelsky auch in Villingen vor 50 Konfirmanden über die Verfolgung und ihr Leben gesprochen. Mit dabei war Pfarrer Hans Peter Gieß. »Ich erinnere mich, wie sie damals erzählt hat, wie gerne sie nach Gießen zum Tanzen gegangen war«, sagt Gieß. »Und plötzlich habe sie dann niemand mehr aufgefordert.« Lubelsky hatte den Konfirmanden davon berichtet, dass nach Hitlers Machtergreifung 1933 plötzlich ein Zettel an der Tür hing mit der Aufschrift »Hier wohnt ein Jude«. Dabei waren sie bis dahin eine ganz normale Langsdorfer Familie gewesen. Plötzlich wurden sie ausgegrenzt. »Ich hatte ein bisschen Angst vor der Begegnung«, erinnert sich Brigitte Block an damals. »Aber Siddy war herzlich, aufgeschlossen und hat sich sehr für ein modernes Deutschland interessiert.«

Großes Interesse hatten nun auch auch Siddys Nachfahren aus Argentinien an dem Geburtsort ihrer Vorfahrin. Sohn Francesco, der Siddy 1994 schon begleitet hatte, kam diesmal mit Sohn Alejandro, Tochter Claudia und Sohn Gabriel.

Groß war die Wiedersehensfreude. Beide Seiten hatten viele Fotos dabei und fing sofort an, sie sich anzuschauen. Bürgermeister Dr. Julien Neubert erklärte den Besuchern, welchen großen Stellenwert die Erinnerungskultur in Lich einnimmt. Er erläuterte ihnen, was es mit der geplanten Stolperstein-Verlegung auf sich hat, und dass auch für ihre Familie Exemplare vorgesehen sind, die vor dem ehemaligen Wohnhaus gesetzt werden.

Möglich gemacht hatte den Besuch das Besuchsprogramm der Stadt Frankfurt für ehemalige Frankfurter jüdischer Herkunft, an dem sich auch die Projektgruppe Jüdisches Leben in Frankfurt am Main beteiligt. Sie stellt unter anderem Kontakte zu Orten her, die mit der Geschichte der Familie verbunden sind, ihre Mitglieder begleiten die Besucher.

So kam Historikerin Cilli Kasper-Holtkotte mit nach Langsdorf. Rudi Krätschmer aus Lich, der viel für das Buch »Juden in Langsdorf« recherchiert hatte, begleitete Familie Lubelsky. In Butzbach hatte die Familie ebenfalls Halt gemacht und wurde dort feierlich empfangen. Denn Siddys Vater Isaak Nelkenstock stammte ursprünglich aus Butzbach. Er zog Anfang 1937 mit seiner Ehefrau Sidonie wieder nach Butzbach, wo diese im Sommer starb. Später reiste er mit Siddys älteren Schwester nach Argentinien. Wenn es klappt, so kündigte Alejandro Lubelsky an, soll das nicht der letzte Besuch in Langsdorf gewesen sein.

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