Bedrohungslage im Fokus
Gießen/Hungen (bac). So langsam aber sicher biegt der Prozess um den »Mord ohne Leiche« auf die Zielgerade ein. Zumindest sieht das die Vorsitzende Richterin Regine Enders-Kunze so, wie sie beim jüngsten Verhandlungstermin sagte. . Bis die Beweisaufnahme jedoch endgültig geschlossen wird, muss sich das Gericht noch durch einige Erklärungen und Beweisanträge arbeiten.
Seit mehr als einem Jahr sitzen zwei Männer, ein Lehrer aus Bruchköbel und ein IT-Spezialist, auf der Anklagebank im externen Gerichtssaal am Stolzenmorgen. Ihnen wird vorgeworfen, ihr Opfer, Daniel M., 2016 nach Hungen gelockt zu haben, um ihn dort zu erschießen. Viele Fragen, wie das eigentliche Tatmotiv oder wer den Schuss gesetzt hat, sind nach wie vor offen, beide Angeklagte beschuldigen sich gegenseitig. Das Verfahren ins Rollen gebracht hatte der Lehrer, als er 2020 zur Polizei ging und von der Tat berichtete. Bis zu diesem Zeitpunkt galt Daniel M. als vermisst. Die sterblichen Überreste sind bis heute nicht gefunden worden. Die Folge: ein langwieriger Indizienprozess.
Während sich der angeklagte Lehrer sehr redselig gibt und alles unternimmt, um sich selbst als Opfer des zweiten Angeklagten darzustellen, schweigt sein ehemaliger Komplize weitgehend. Laut seinem eigenen Bekunden habe er seit der Tat in ständiger Angst um sein Leben und das seiner Eltern gelebt, da ihn der zweite Angeklagte erpresst und bedroht habe.
Security-Personal und Weißer Ring
Der jüngste Verhandlungstag war einem Beweisantrag der Verteidigung des Lehrers geschuldet. Sie hatte die Ladung mehrerer Zeugen beantragt, die etwas zu der Bedrohungslage ihres Mandanten durch seinen Komplizen, dem IT-Spezialisten, sagen sollten. So bestätigte ein ehemaliger Mitarbeiter des Weißen Rings den einmaligen Anruf der Mutter jenes Angeklagten bei ihnen. Der Weiße Ring allerdings habe nichts unternommen. Weil man erst tätig werde, wenn sich ein Opfer direkt melde und weil man prinzipiell keinen Fall annehme, wenn dieser mit einem Verbrechen in Zusammenhang stehe, in das der Hilfesuchende eventuell als Täter involviert ist. »Wir sind für die Opfer da, nicht für die Täter«, so der Zeuge.
Auch zwei Mitarbeiter verschiedener Security-Dienste wurden befragt. Der Angeklagte hatte sich im Frühjahr 2020 mit dem Wunsch nach Personenschutz an sie gewandt, da er sich und seine Familie durch eine andere Person bedroht sah. Wörter wie »Bedrohung« und »Mord« seien jeweils gefallen, daran erinnerten sich die beiden Zeugen, nicht allerdings an den genauen Gesprächsverlauf. Da aus der Anfrage kein Auftrag wurde, seien sämtliche Notizen dazu später vernichtet worden. Keines der beiden Unternehmen nahm den Auftrag an. Das eine nicht, weil es nicht auf diesem Gebiet operiert. Das andere nicht, weil den dortigen Mitarbeitern die Geschichte derart nebulös vorkam, dass es die Polizei informierte und dies auch dem Angeklagten mitteilte.
In den nächsten Verhandlungstagen will der Lehrer zu seiner Finanzsituation Stellung nehmen und auf Fragen der Verteidigung des zweiten Angeklagten antworten. Letztere werden jetzt vorbereitet.