„Hätte gerne noch fünf Jahre weitergemacht“: Beliebter Bäcker macht dicht

Eine beliebte Bäckerei bei Gießen schließt für immer ihre Tore. In fünfter Generation ist Schluss.
Rechtenbach - »Wo solle wir denn jetzt hingehe?« Die alte Frau ist nicht die einzige, die in diesen Tagen ratlos in der Bäckerei Langsdorf steht. Viele haben fassungslos den Aushang an der Verkaufstheke gelesen: »Wir schließen das Geschäft.« Seit 15. Juni ist der Ofen aus. Damit verschwindet praktisch der letzte eigenständige Handwerksbetrieb der Lebensmittelbranche aus der Ortsmitte.
»Ich hätte gerne noch fünf Jahre weiter gemacht«, sagt der 55-jährige Bäckermeister Harald Langsdorf. Die Anstrengungen der letzten Jahre wären jedoch zu groß gewesen. Da habe stets Druck bestanden, jemanden für die Backstube zu finden - doch Bäcker würden immer rarer. Selbst ein Mitarbeiter, der den Verkaufswagen durch die Dörfer fährt, sei praktisch nicht mehr zu bekommen gewesen. »Ich habe ein halbes Jahr annonciert - trotzdem Fehlanzeige.«
Nahe Gießen: Bäckerei schließt - „Ich kann einfach nicht mehr“
Und zieht nun den Schlussstrich: »Ich will einfach nicht mehr. Es geht nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr. Ich kann nicht mehr richtig schlafen.« Zudem lohne sich der große Aufwand, das Handwerk zu betreiben, nicht mehr.
Fünf Generationen betrieben die Backstube. Der als Sohn deutscher Einwanderer 1857 geborene Konrad Hensel kehrte 1888 mit seinen vier Kindern von Philadelphia aus in die alte Heimat zurück. In Butzbach erlernte er das Bäckerhandwerk und kaufte 1894 das Anwesen an der Frankfurter Straße. Da hatte die Bäckerei alsbald einen sehr guten Ruf. Mit dem Pferdefuhrwerk brachte Hensel sein Brot nach Gießen - 400 Laibe in der Woche.
Sein Sohn Heinrich führte das Geschäft von 1918 bis 1952. Ursprünglich sollte Heinrichs Tochter Therese mit ihrem Mann Wilhelm Nachfolger werden. Doch dieser fiel im Zweiten Weltkrieg. Erna, die zweite Tochter von Konrad Hensel, übernahm dann mit ihrem Mann Albert Langsdorf den Betrieb - daher auch der Namenswechsel. Ab 1974 führte Klaus Langsdorf (79) mit seiner Frau Heidi († 2022) das Geschäft.
Bäckerei Langsdorf in Rechtenbach schließt: Die fetten Jahre sind vorbei
»Dann kamen die fetten Jahre. Es gab Frankfurter Kranz, Schwarzwälder Kirschtorte, Windbeutel in allen Variationen - da waren die Leute ganz verrückt drauf«, erinnert sich Klaus Langsdorf. Zudem belieferte der Rechtenbacher Bäcker mit seinen Erzeugnissen die Lebensmittelgeschäfte, die Metzgereien und Heime.
»Das alles kannst du nur machen, wenn du die richtige Frau hast - hat der Vater immer gesagt«, bemerkt Harald Langsdorf lachend, der offiziell den Betrieb in 1998 übernommen hatte. Er selbst führt seit 20 Jahren zusammen mit seiner Lebensgefährtin Simone Leonhardt das Geschäft.
Mit belegten Brötchen für hungrige Vorbeifahrende und Schüler, aber auch einer Vielfalt an Brot sicherte sich das Geschäft eine breite Kundschaft. Das Paradestück ist allerdings stets das nach alter Tradition hergestellte »Ausgehobene« gewesen. Ein reines kräftiges Roggenbrot - aus dem Kessel »gehoben« und geformt -, gebacken mit einem Dreistufensauerteig. Rund 40 Laibe dieser Charakterstücke gingen jeden Tag über die Ladentheke. Wecken wurden per Hand geformt, über 1000 Brötchen verschiedener Sorten gingen täglich über die Theke.
Bäckerei in Rechtenbach schließt: Mit Hefeschnecken ins Fernsehen
Urlaubsgefühle erweckten die Ensaimadas - eine Spezialität aus Mallorca, die das süße Angebot komplettierte. Der mallorquinische Bäcker Pedro Ferrer hatte Harald Langsdorf in das Geheimnis dieser schmackhaften Hefeschnecken eingeweiht; die Ensaimadas wurden zum Kassenschlager in Rechtenbach und bald konnte Harald Langsdorf beim HR-Fernsehen in der Sendung Maintower und bei den hessischen Radiosendern mit der Schleckerei punkten.
Konkurrenz belebte stets des Geschäft. »Ich hatte vor jedem Angst, der hier als Mitbewerber gekommen ist - doch keiner hat mir wehgetan«, fasst Harald Langsdorf die Entwicklung zusammen. Geändert habe sich aber doch viel. »Die Dorfmitte existiert nicht mehr. Alles fährt heute zum Aldi und zum Rewe - von dort wird alles mitgebracht. Es ist keine Zeit mehr. Das Schwätzchen beim Bäcker gibt es nicht mehr. Die ganze Kommunikation ist hin.« Zeit für den Ladenschluss. (Michael Breuer)
Ein Bäcker im Kreis Gießen geht derweil einen anderen Weg.