Aus der Mitte in den Extremismus

Was treibt Menschen dazu, sich »Querdenkern« anzuschließen und Verschwörungserzählungen anheimzufallen? Der Journalist und Rechtsextremismus- Experte Andreas Speit sieht auch in einem »alternativer Lebenshabitus« Anknüpfungspunkte Richtung rechts - und warnt vor Radikalisierung.
Das Gros der Bevölkerung in Deutschland unterstützt die Corona-Schutzmaßnahmen, aber nicht alle: Selbst ernannte »Querdenker« machen im Netz und auf der Straße mobil. Was verbindet sie - und woher rührt die Nähe zu rechtsextremen Positionen? Darüber hat Andreas Speit, Journalist und Kenner der rechtsextremen Szene in Deutschland, kürzlich bei einer Tagung der Kreis-Jugendförderung in Buseck referiert. Der Titel seines Vortrags: »Corona-Pandemie: Antidemokratische Einstellungen, Verschwörungsideologien und die Gefahr von rechts«.
Die Motivlage der »Querdenkenden« sei je nach Region verschieden, vor Pauschalisierungen müsse man sich hüten, so Speit. Doch es handle sich nicht um Personen, die »einfach ein bisschen wirr sind« - diese Betrachtung klammere den politischen Kontext aus. Wie gefährlich der sei, habe das nun aufgeflogene Netzwerk »Vereinigte Patrioten« gezeigt: Mitglieder planten laut Ermittlungsbehörden die Entführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und Anschläge mit dem Ziel einer Destabilisierung. Speit: »Wir haben es mit ›Querdenkenden‹ zu tun, die gleichzeitig aus dem reichsideologischen Spektrum kommen«, die rechtsmäßige Existenz der Bundesrepublik bestreiten. Dass solche Elemente an Relevanz gewönnen, überrasche ihn nicht.
Mitunter gebe es Versuche aus diesem Spektrum, eigene Schulen zu gründen, auch in Hessen. Ein Beispiel sei die »Bauernhofschule« in Leun (Lahn-Dill-Kreis). Der Journalist sieht »eine Verzahnung verschiedener extremer Milieus«.
Die Akzeptanz, mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten, sei gestiegen - gerade auch bei gebildeten Menschen aus der Mittelschicht. »Wir wagen es nicht zu sagen, aber rechtsextreme Ressentiments werden überwiegend aus der Mitte produziert.«
Dabei gehe es laut Studien oft um Menschen, die eigentlich »links« wählten, »aber ohne geschlossenes linkes Weltbild«, so seine These. Anknüpfungspunkt sei häufig ein »Lifestyle«, der etwa auf Lastenräder und Yoga setze, ein »alternativer Lebenshabitus«. Die Nähe zu Rechtsextremen zeige sich auf Demos, wenn »Reichsfarben neben Regenbogenfarben« auftauchten. Es gebe eine »enorme Sehnsucht nach Harmonie und einer ursprünglichen Lebensgemeinschaft«, quasi als »antimoderner Reflex«, so Speit. »Verkürzt gesagt: Mit diesem Bedürfnis kann ich eine offene Hippie-Kommune gründen - oder eine geschlossene ›Volksgemeinschaft‹.«
So werde gemeinsam mit Rechtsextremen »gejammert«, die Nähe zu ihnen jedoch kaum realisiert. Dies wolle er aber nicht so verstanden wissen, dass Spiritualität ein autoritäres Ende nehmen müsse.
Speit sprach von Menschen, »die unglaublich kritisch sind«, legitime Fragen stellten, auch zu »Maskendeals« und Profiteuren der Pandemie.
Aber: »Dieses kritische Denken hört auf, wenn sie glauben, die Wahrheit gefunden zu haben.« Wenn wissenschaftlich fundierte Meinungen dann als »irgendeine Meinung« abgetan würden, markiere das den Übergang zu Verschwörungserzählungen. »Viele Menschen haben sich leider verrannt«, wenn auch auf Basis »berechtigter Sorgen«. Diese machten sich »Krisenpropheten« zunutze. »Diese Personen sprechen Verängstigte an«, sagte Speit, sie schürten »anhaltende Panik«.
Dabei hätten sich die Themen längst erweitert: Der menschengemachte Klimawandel werde bestritten. Und auch beim Thema Ukraine-Krieg verbreite sich »die Meinung, dass uns nicht die Wahrheit erzählt wird«. Dies gelte etwa für Online-Postings der Gruppe »Gießen für Freiheit«, auf deren Telegram-Kanal auch krude Behauptungen im Kontext von Corona zu finden sind.
Gerade der Messenger-Dienst Telegram spiele eine Rolle. Viele fänden dort vermeintliche Lösungen - aber auch »antisemitische Töne«. Speit sieht »ein Wegkippen von Wissenschaftkritik zu Wissenschaftsfeindlichkeit« und die Gefahr der Radikalisierung. »Wir haben schon den ersten Toten, es ist dramatisch«, bezog er sich auf den Mord von Idar-Ober-stein. Dort hatte ein Maskenverweigerer im September einen Tankstellen-Mitarbeiter erschossen - und war »schon lange in sozialen Medien in rechtsradikalen Strukturen verhaftet«.
Die »Querdenker«-Szene habe sich inzwischen verselbstständigt. Während manche ernsthaft meinten, man lebe in einer Diktatur, merkten sie offenbar nicht, dass man auch mit dieser Haltung auf die Straße gehen könne. Bezeichnend sei, dass »Querdenker« sich teils in die Tradition des Widerstands stellten, es so zu einer Verhöhnung von NS-Opfern komme - etwa, wenn Ungeimpfte sich einen gelben Stern anheften. Andererseits sei das Motiv von Marionetten und Strippenziehern auf Corona-Demos häufig zu finden - ein Anklang an antisemitische Verschwörungserzählungen.
Mit Blick auf das Impfen sieht Speit eine »nicht solidarische, sondern egomane Bewegung«. Denn es werde auf die eigene körperliche Unversehrtheit gepocht, wenngleich das die Gesundheit anderer gefährde.
Auffällig findet der Rechtsextremismus-Experte, dass viele Frauen bei den Protesten mitlaufen. Warum? Manche hingen einem »romantisierten Bild der Mütterlichkeit« nach, »einige fühlen sich offenbar in ihrer Rolle stark kritisiert«. Und womöglich gebe es einen weiteren Grund: Männer kümmerten sich in der Regel weniger um ihre eigene Gesundheit. FOTO: JWR