Aus dem Krieg in die Idylle

Konfirmanden und kirchliche Gruppen aus ganz Europa haben 60 Jahre lang im Paul-Schneider-Heim bei Dornholzhausen Freizeiten verbracht. Nun leben dort Menschen aus der Ukraine. Einblick in eine ungewöhnliche Unterkunft für Flüchtlinge.
Ein Windstoß haucht durch die Baumkronen. Vogelgezwitscher. Ansonsten herrscht Stille. Der schmale asphaltierte Weg nahe Dornholzhausen führt an Äckern und einem Bauernhof vorbei. Dann, nach 600 Metern, ist das Gebäude zu sehen. Hier, vor dem Paul-Schneider-Freizeitheim, mitten in der Idylle, umgeben von Apfel-, Kirsch- und Quittenbäumen, hat ein halbes Dutzend Frauen Platz genommen.
»Ja, das hier ist ein Paradies«, sagt eine von ihnen. »Es beruhigt die Seele«, fügt sie hinzu. »Aber dann schaust du in dein Handy, siehst Bilder und Videos, die Nachbarn aus der Heimat geschickt haben, und erkennst auf den Fotos dein zerstörtes Haus.«
Die Frauen stammen aus Städten wie Irpin und Saporischschja. Vor wenigen Wochen waren sie in der Ukraine noch von einem ständigen Sirenengeheul umgeben, sie haben sich in Kellern versteckt. Nun sitzen sie auf Holzbänken rund um eine Grillfläche am Waldrand bei Dornholzhausen. Angesichts der Ereignisse in der ukrainischen Heimat ist es eine fast unwirkliche Idylle.
»Für mein Kind muss ich positiv bleiben«, sagt die 41 Jahre alte Natalia. »Wenn ich Nachrichten aus der Heimat lese, macht mich das traurig, ich kann dann nicht schlafen.« Die friedliche Umgebung des Paul-Schneider-Heims tue daher gut.
Seit Mitte März ist die Rechtsanwältin aus Saporischschja im Süden der Ukraine mit ihrer vier Jahre alten Tochter in Langgöns. Auch ihre Schwester und deren Kind sind wie sie über Warschau und Berlin hierher geflüchtet.
Als Natalia vom Kriegsbeginn erzählt, bricht sie für einen Moment in Tränen aus. »Ich habe gerade meine Tochter in die Kita bringen wollen, als ich es erfahren habe.« Sie hätten dann schnell die Entscheidung getroffen, zu fliehen. »Ich hätte niemals gedacht, dass ich die Ukraine einmal verlasse.«
Auf die Frage, was sie sich wünscht. sagt sie ohne zu zögern: »Ein Ende des Kriegs.« Für ihre Tochter hoffe sie hier auf eine baldige Betreuung in einem Kindergarten, um dann selbst arbeiten zu können. Die Frauen weisen auf die eher ungünstige Busanbindung des Paul-Schneider-Heims hin. Dann kramt Natalia, die Rechtsanwältin, ihr Handy hervor, zeigt Videos von sich beim Kraftsport und wie sie einen Spagat macht. Sie lacht auf. Was sie sich wünsche? »I want a Fitnessstudio.«
Auf einer der Holzbänke am Paul-Schneider-Freizeitheim sitzt auch Jelena. Auch sie zeigt Bilder auf ihrem Handy. Es sind Bilder der Zerstörung. Jelena ist aus Irpin, der umkämpften, im April von der ukrainischen Armee zurückeroberten Stadt, die nun in Schutt und Asche liegt. Die Frau zeigt Fotos von Trümmern. Das sei ihr Hotel, sagt sie, in dem sie bis vor drei Monaten noch täglich gearbeitet hat. Sie hat dort Tische gedeckt, Betten gemacht. »Ich hatte eine schöne Wohnung, ich hatte ein gutes Leben«, sagt sie. Nun sei alles zerstört.
Mit drei Kolleginnen aus dem Hotel ist sie geflüchtet, gemeinsam leben sie hier im Paul-Schneider-Heim. Ihre schwangere Tochter sei mit ihren Kindern noch in der Ukraine, habe ihr Land bisher nicht verlassen wollen, sagt Jelena. »Wir reden täglich.«
Um sechs Uhr steht die Frau jeden Morgen auf, geht joggen oder spazieren. »Manchmal laufe ich ins Dorf, manchmal in den Wald.« Danach bereitet sie für sich und die anderen Frauen das Frühstück zu. »Wir haben uns die Arbeit hier alle untereinander aufgeteilt«, erzählt sie. Mittags gibt es - wie in der Ukraine Tradition - Suppe.
Das Paul-Schneider-Heim ist eine ungewöhnliche Unterkunft für Flüchtlinge. Mehr als 60 Jahre lang war es Ausflugsziel für Konfirmanden und Gruppen aus ganz Deutschland sowie dem europäischen Ausland. Mittlerweile hat die Gemeinde Langgöns das Haus dem Kirchenkreis abgekauft, eine Natur-Kita soll dort bald entstehen. Die Räume erinnern an eine Jugendherberge, im Erdgeschoss steht eine Tischtennisplatte.
Ohnehin nimmt die Gemeinde Langgöns im Kreis Gießen eine Sonderrolle in der Aufnahme von Menschen aus der Ukraine ein. Bereits eine Woche nach Kriegsbeginn kamen die ersten Flüchtlinge hier an, aufgrund vieler noch bestehender Kontakte des Arbeitskreises »Leben nach Tschernobyl« in der evangelischen Kirchengemeinde. Wenige Wochen nach Kriegsbeginn waren bereits 200 Flüchtlinge privat bei Langgönsern untergebracht.
Die Feuerwehren haben anfangs einen Fahrdienst rund um die Uhr eingerichtet, um die Flüchtlinge zu Ärzten oder Behörden zu bringen. Unternehmen haben sofort Jobs angeboten, mehrere ukrainische Frauen arbeiten beispielsweise für den Bäckereibetrieb Künkel. Der Bürgermeister schaue immer wieder im Paul-Schneider-Heim vorbei, auch mit der eigenen Familie, berichten dort die Bewohnerinnen. Während in anderen Kommunen des Kreisgebiets die in der Regel für mehrere Städte zuständige Gemeinwesenarbeit als Ansprechpartner dient, kümmert sich in Langgöns ein Mitarbeiter der Verwaltung, Marco Lehner, von morgens bis abends um die Flüchtlinge und deren Anliegen. Auch er sitzt an der Grillfläche vor dem Paul-Schneider-Heim, schwätzt mit den Bewohnerinnen, schreibt eine E-Mail an eine Hautarztpraxis, um für eine Frau einen Termin zu vereinbaren. Wohlgemerkt an einem Samstagnachmittag.
In den ersten Tagen stand draußen noch ein Polizeiwagen, um den Bewohnerinnen ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Weil es aber eher für Ängstlichkeit sorgte und zu Fragen führte, ob man das Gelände überhaupt verlassen dürfe, steht das Auto dort nicht mehr. »Ich fühle mich hier sicher«, sagt Natalia.
Beigetragen hat dazu auch das Hausmeisterehepaar Regina und Hans Glaser. Zu Ostern haben die beiden, obwohl sie selbst eigentlich Urlaub hatten, für die Bewohnerinnen Steaks, Würstchen und Hähnchenspieße gegrillt und drei Bleche Kuchen gebacken. Wenige Tage später, am Geburtstag Regina Glasers, stehen die ukrainischen Frauen vor der Wohnung des Ehepaars und bitten die Hausmeisterin nach draußen. Sie singen ihr ein Ständchen, dann überreichen sie ihr eine Kette mit dem Symbol eines Lebensbaums als Anhänger, die Frauen haben für das Geschenk zusammengelegt. Sie habe vor Rührung am ganzen Körper gezittert, erzählt Regina Glaser.