Apotheken unter Druck: Viele „zum Aufgeben“ gezwungen

Obwohl Apotheken in der Corona-Pandemie mehr Umsatz machen, müssen kleine Betriebe ums Überleben kämpfen – das spüren auch Apotheken im Raum Gießen.
Gießen – Hessenweit geht die Zahl der Apotheken laut Apotheker-Landesverband merklich zurück. In Stadt und Kreis Gießen scheint die Versorgung zwar gesichert, doch auch hier haben Betriebsinhaber mit engen Spielräumen, Personalnöten und anderen Herausforderungen zu tun.
Von verschreibungspflichtigen Medikamenten über Nasensprays, Pflaster und Co. bis zu Bestellungen von Covid-Vakzinen und der Ausstellung von digitalen Impfzertifikaten: Apotheken sind ein Dreh- und Angelpunkt des Gesundheitssystems, gewährleisten, nicht erst seit Corona, medizinische Versorgung vor Ort.
Allerdings werden die Apotheken-Standorte in Hessen weniger, wie der Hessische Apothekerverband (HAV) kürzlich vorgerechnet hat: Laut einer Mitteilung ist die Zahl der Betriebe – darunter auch Filialen – hessenweit binnen zehn Jahren um gut elf Prozent gesunken, Ende 2021 waren es demnach noch 1412. Da die Bevölkerung im gleichen Zeitraum gewachsen sei, müssen die Apotheken laut HAV im Schnitt nun knapp 4500 Menschen versorgen. Pro 100 000 Einwohnern zählt der Verband in Hessen 22 Apotheken. Bundesweit seien es 2020 23 gewesen, im europäischen Durchschnitt sogar 32.
Apotheken zum Aufgeben gezwungen: Mangel an allen Ecken spüren auch Apotheken in Gießen
Die wirtschaftliche Entwicklung der Apotheken bleibe seit Jahren deutlich hinter der allgemeinen Preisentwicklung zurück, heißt es in der Mitteilung. Viele seien „zum Aufgeben“ gezwungen. Auch teils gestiegene Umsätze „aufgrund pandemiebedingter Sondereffekte“ hätten die Einbrüche kaum kompensieren können. Es mangle an finanziellen Spielräumen, vielerorts auch an Personal und Nachfolgern.
Wie stellt sich die Situation im Kreis Gießen dar? „Ich denke, im Moment ist die Versorgungslage hier noch ausreichend, aber man merkt den Schwund“, sagt Mira Sellheim. Sie führt seit 1995 die Apotheke am Ludwigsplatz in Gießen, seit 2011 zudem die Apotheke in Rodheim-Bieber und ist HAV-Vorstandsmitglied. Der Verband zählt aktuell 39 Apotheken-Standorte im Kreis, 22 in der Stadt, wobei etwa zwei Prozent der Apotheken keine HAV-Mitglieder und daher nicht verzeichnet seien. 2015 gab es laut einer Studie des Verbands im Kreis Gießen 40 Apotheken, 25 in der Stadt. Unterm Strich ist also ein leichter Rückgang zu verzeichnen.
Apotheken lohnen sich nicht mehr: Löhne wie in der Industrie sprengen Budget
Die Herausforderungen sind laut Sellheim vielfältig, liegen unter anderem in der „schwierigen Preisentwicklung“: Einen Großteil des Umsatzes machten die Betriebe mit verschreibungspflichtigen Mitteln. Dafür erhalten die Apotheker von den gesetzlichen Krankenkassen, die für die allermeisten Patienten zuständig sind, den Einkaufspreis plus drei Prozent erstattet. Obendrauf kommt eine Pauschale, die laut Sellheim gleich bleibt – egal wie viel ein Medikament kostet. Diese habe sich seit Jahren kaum verändert, während Löhne zu Recht gestiegen seien, sagt Sellheim. Gerade für Betriebe im ländlichen Raum oder in sozial schwächeren Gebieten, wo Verschreibungen den ganz überwiegenden Teil des Umsatzes bestimmen, würden die Spielräume geringer.
Sorgen bereitet außerdem die Personalsituation. „Wir sind eine frauenfreundliche Branche“, sagt Sellheim. Doch gegenüber dem, was etwa in der Industrie an Löhnen geboten werde, könnten Apotheken kaum mithalten. Auch mangle es in Hessen an Ausbildungsmöglichkeiten für pharmazeutisch-technische Assistenten, die dringend gebraucht würden. „Wir haben unser Auskommen, ich will überhaupt nicht jammern“, betont die Inhaberin. „Aber etliche Betriebe sind nicht mehr rentabel, da arbeiten die Inhaber in Selbstausbeutung.“ Erreichten diese dann die Altersgrenze, seien die Apotheken oft in einem nicht mehr verkäuflichen Zustand. Das macht die Suche nach Nachfolgern umso schwerer – und viele Betreiber stünden aktuell vor der Rente.
„Für Apotheken wird es immer problematischer“, pflichtet Olaf Herde, Co-Inhaber der Apotheke am Stadtturm in Lich (Kreis Gießen), bei. Dass es zuletzt, auch wegen teurer werdender „Hightech-Medikamente“, einen Umsatzboom gegeben habe, sage noch nichts über den Gewinn aus. Nicht zuletzt sei nun geplant, den „Kassenabschlag“ als eine Art Mengenrabatt für die gesetzlichen Krankenversicherungen temporär zu erhöhen. Dies werde die Einnahmesituation abermals erschweren, denn Rezepte seien „das Rückgrat einer Apotheke“.
Die Großen verdrängen die Kleinen: Apotheken müssen auch in Gießen immer mehr Auflagen erfüllen
Herde beklagt steigende bürokratische Hürden, etwa bei der Abrechnung mit den Kassen. „Das braucht Personal und macht es aufwändiger, das Tagesgeschäft zu vollziehen.“ Zwar seien Apotheken, je nach Lage und Kundschaft, schwer vergleichbar. Doch der Trend ist aus seiner Sicht klar: „Die Schere zwischen den Apotheken geht immer weiter auf – große Betriebe können die Standards eher erfüllen“, sagt er.
„In der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, was die Apotheke vor Ort leistet“, betont Herde. Er habe Desinfektionsmittel selbst hergestellt, auch die Verteilung von Masken und von Impfstoffen an Ärzte sei unter anderem hinzugekommen.
Gleichzeitig sei „normale“ Kundschaft zurückgegangen, berichtet Sellheim. Mitunter seien für die Erkältungssaison bestellte Präparate verfallen – auch das gehöre zum Risiko eines Apothekers. „Das normale Geschäft hat sich noch nicht so wiederhergestellt, wie es vorher war“, wohl auch, weil manche den Gang zum Arzt noch immer scheuten. Unter Druck geraten Apotheken auch wegen Online-Konkurrenz: Mehr und mehr hätten sich Kunden daran gewöhnt, im Internet zu bestellen, sagt Sellheim. Eine Entwicklung, die den Einzelhandel insgesamt umtreibt. (Jonas Wissner)