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»An einer Stelle werde ich unbequem«

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Von: Stefan Schaal

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»Der Erfolg des Bankgeschäfts hängt doch von einer zentralen Eigenschaft ab«, sagt Marius Reusch. »Vertrauen.« © Stefan Schaal

Der allmähliche Rückzug heimischer Banken aus dem ländlichen Bereich beschäftigt den Langgönser Bürgermeister Marius Reusch seit Längerem. Das Problem will er nun mit dem Landkreis und den Städten und Gemeinden im Gießener Land intensiver angehen. Bei Sparkassen und Volksbank »rückt der Gedanke, Partner der Region zu sein, in die Ferne«, sagt Reusch.

Herr Reusch, wie sehr hat Sie das Aus der Firma Truplast in Langgöns überrascht?

Ich bin in Kontakt mit mehreren Mitarbeitern, auch ehemaligen. Bis vor drei Wochen gab es keine Anzeichen. 2019 ist der Standort ja noch erweitert worden, das war für alle ein positives Zeichen. Wobei in den vergangenen Jahren schon zu beobachten war, dass sich das Geschäftsfeld bei der Herstellung von Schlauchsystemen für Staubsauger verändert. Dass aber das Aus so radikal mit der kompletten Standortaufgabe ohne irgendwelche Sozialpläne und die Kündigung von 79 Mitarbeitern mit dieser kurzen Frist passiert, das finde ich sehr bedenklich.

Das Fehlen eines Betriebsrats erweist sich in diesem Fall als schwerwiegender Mangel.

Ja, sicher. Ich will das nicht weiter kommentieren. Grundsätzlich ist es ein Verlust. Truplast war seit den 70er Jahren in Langgöns, vorher war an dem Standort bereits ein Kunststoff-Betrieb ansässig.

Sie haben angekündigt, dass die Gemeinde Langgöns für die Mitarbeiter, die nun arbeitslos werden, als Vermittler auftreten will. Was tun Sie?

Das hat schon gestartet. Zwei bis drei Unternehmen aus der Region haben sich bereits bei mir gemeldet, die nach Fachkräften suchen. Ich gebe das dann an Truplast weiter. Mal schauen, ob es etwas bringt. Ich kann mich natürlich nicht um jeden einzelnen Arbeitsplatz kümmern. Aber es war mir wichtig, die Jobsuche der Mitarbeiter zu adressieren. Natürlich hätte ich es lieber gehabt, wenn ich die Chance gehabt hätte, wie mein Staufenberger Kollege Peter Gefeller für die »Schamott« in Mainzlar zu kämpfen, politische Hebel in Bewegung zu setzen. In diesem Fall bekommt man nur die späte Nachricht vom feststehenden Truplast-Aus.

Gab es schon Gespräche, was mit dem Standort passieren soll?

Dafür ist es noch zu früh. Bei mir rattert es natürlich im Kopf, wie man den Standort wieder mit Leben füllen kann. Wir beobachten ja eine große Nachfrage von Unternehmen nach Gewerbegrundstücken.

Spricht man mit älteren Ex-Bürgermeistern wie mit Ulrich Lenz aus Linden oder Karl-Heinz Schäfer aus Pohlheim, dann war es häufig deren Stärke, dass sie ständig in Kontakt mit den ansässigen Unternehmen waren. Bei Schieflagen von Betrieben wussten sie sofort Bescheid. Würden Sie sagen, dass sich Unternehmen heute mehr als früher abschotten?

Das kann ich nicht sagen, das hängt vom Einzelfall ab. Ich versuche, alle Unternehmen in Langgöns regelmäßig zu besuchen, bei ihnen hineinzuhören. Durch Corona ist das anderthalb Jahre lang weitgehend unterbrochen worden. Bei Truplast, muss ich ehrlich gestehen, war ich bisher nicht, das wäre irgendwann auf der Liste gewesen. Aber Sie haben recht, das ist ein wichtiger Part des Jobs. Auch weil Unternehmen im Moment in Langgöns keine eigene öffentliche Stimme haben. Es gibt aktuell keinen Gewerbeverein in der Gemeinde.

Wie geht es eigentlich dem Gewerbestandort Langgöns?

Grundsätzlich noch sehr gut. Dieser breite Mix an Unternehmen aus dem Kunststoff- und Metallbau, der Logistik und aus Zulieferern der Autoindustrie hat sich in den vergangenen Jahren als Vorteil erwiesen. Aber wir spüren hier auch, dass die wirtschaftliche Welt ziemlich aus den Fugen geraten ist. Wenn die heimischen Unternehmen über ihre Zukunftsaussichten sprechen, sind viele etwas vorsichtiger geworden. Viele hatten vor zwei, drei Jahren eigentlich Pläne, zu erweitern. Doch die Rahmenbedingungen und die steigenden Baupreise sorgen für Fragezeichen am Horizont. Allerdings mache ich mir eher um die kleineren Handwerksbetriebe Gedanken.

Inwiefern?

Hier gibt ein Bäcker auf, dort schließt ein Metzger. Mehr und mehr Handwerksbetriebe finden keinen Nachfolger. Ein langsames Aufbrechen dieser kleinteiligen Strukturen bekommen wir zu spüren. Und das finde ich äußerst bedenklich, denn gerade die Struktur des Handwerks ist für die lokale Wirtschaft und die Arbeitsplätze von größter Bedeutung. Den Fachkräftemangel spüren wir natürlich auch als Gemeinde bei Ausschreibungen, wenn wir versuchen, unsere Bauprojekte umzusetzen.

Von diesem Problem ist kaum eine Branche verschont.

Bei uns spitzt sich gerade der Mangel an Erzieherinnen und Erziehern im Kita-Bereich extrem zu. Wir können zunehmend unserem gesetzlichen Auftrag, den Menschen ausreichend Kita-Plätze vorzuhalten, nicht nachkommen, allein aufgrund des Personalmangels. Wir wollen in diesem Herbst eigentlich drei neue Kita-Gruppen gründen. Das werden wir nicht schaffen.

Um welche Kitas handelt es sich?

Zwei Gruppen sind ja im Paul-Schneider-Heim geplant. Da können wir jetzt zumindest mit einer starten. Und in Cleeberg stoßen wir auf die Herausforderung, dass der Ort relativ weit von größeren Städten entfernt und damit unattraktiv für Bewerberinnen ist. Die Situation hat sich durch den Fachkräftemangel komplett umgekehrt. Wir als Gemeinde müssen um jeden werben, haben überhaupt keine Auswahl mehr. Erzieherinnen können sich ihre Kita in der aktuellen Marktlage nach Belieben aussuchen. Und eine Erzieherin, die in Gießen oder in Butzbach lebt, hinterfragt jeden Kilometer, den sie mehr als nötig fahren muss. Das kann ich persönlich nachvollziehen. Aber das macht die Suche nach Personal ziemlich schwierig.

Was bedeutet das für die drei geplanten neuen Kita-Gruppen?

Wir haben die Einrichtung der Gruppen verschoben und bemühen uns weiter um Erzieherinnen. Immerhin bekommen wir noch Bewerbungen. Im Herbst werden wir außerdem verwaltungsintern und auf politischer Ebene Schritte angehen. Vor allem müssen wir als Arbeitgeber attraktiver werden.

Welche Überlegungen gibt es da?

Ein erster Schritt ist, dass wir zum 1. September erstmals insgesamt sechs praxisintegrierte vergütete Ausbildungsstellen schaffen. Wir bilden damit Erzieherinnen selbst aus, die Jahr für Jahr mehr als Fachkräfte anerkannt werden.

Sollten Sie als Gemeinde nicht auch die Bezahlung von Erzieherinnen verbessern, um attraktiver für Bewerberinnen zu werden?

Ich halte nichts davon, aus dem Tarifsystem auszusteigen. Bad Nauheim zum Beispiel hat das getan, hat einfach mal sämtliche Gehaltsstufen angehoben. Das kann man sich leisten, wenn man ein Kurstandort ist und entsprechende Einnahmen hat. Aber damit setzt man eine Spirale in Gang, bei der dann nur die wohlhabenden Kommunen im Wettbewerb um die Erzieherinnen gewinnen - und andere ins Hintertreffen geraten. Was macht dann die Rabenau?

Sie stimmen aber schon zu, dass Erzieherinnen besser bezahlt werden müssen, um den Beruf attraktiver zu machen?

Dass das Berufsfeld der Erzieherinnen auch bei den Tarifabschlüssen attraktiver werden muss, da bin ich dabei.

In einem ganz anderen Konflikt haben Sie vor Kurzem aufhorchen lassen: Sie haben vorgeschlagen, dass Sparkasse und Volksbank zukünftig ihr Beratungsangebot kurzfristig beispielsweise in Bürgerhäusern in den Dörfern als Pop-up-Filialen einrichten könnten, um die Präsenz auf dem Land aufrechtzuerhalten. Der Vorschlag ist eher auf Desinteresse der Banken gestoßen.

Wir werden in dem Thema noch mal aktiv werden. Erst mal ist auf mein Anliegen im Kreis zumindest auf politischer Ebene reagiert worden. Die Kommunen wollen zusammen mit dem Landkreis eine Initiative starten. Das finde ich sehr gut. Vor allem im Gespräch mit den Sparkassen hoffen wir dabei auf Reaktionen, weil die uns ja quasi gehören. Bei der Volksbank sind viele, wie ich auch, Mitglied. Die Frage ist: Wie entscheiden wir eigentlich mit, was die Ausrichtung angeht?

Wie erleben Sie denn die Reaktion der heimischen Banken auf Ihren Vorschlag der Pop-up-Filialen?

Grundsätzlich besteht weiterhin eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit sowie eine verständnisvolle Kommunikation. Ich habe allerdings den Eindruck, dass man das Thema der abnehmenden Präsenz der Banken auf dem Land aus einer anderen Perspektive sieht oder gar nicht als Problematik. Auch weil die Bargeldversorgung zunehmend ausgelagert wird, zum Beispiel durch die Möglichkeit, beim Einkaufen im Supermarkt Geld abzuheben. Ich merke aber als Bürger, dass von Jahr zu Jahr Komfort und ein Stück Infrastruktur verloren gehen. Wenn ich als Oberkleener Bargeld brauche, muss ich planen. Ich kann abends auf dem Heimweg nicht mehr zwischendurch bei einem Geldautomaten einfach anhalten. Mir ist klar, dass auf kleineren Dörfern keine Filialen mit mehreren Mitarbeitern mehr wirtschaftlich funktionieren, aber bei kreativen Lösungen arbeiten wir auch als Gemeinde sehr gerne mit. Zumindest die Bargeldversorgung gehört aus meiner Sicht zur Infrastruktur.

Der Rückzug der Banken hat freilich damit zu tun, dass die Menschen immer seltener eine Bank aufsuchen.

Sicher. Aber der Erfolg des Bankgeschäfts hängt doch von einer zentralen Eigenschaft ab: Vertrauen. Ein ganz persönliches Beispiel: Ich habe die Finanzierung für die Renovierung meines Hauses bei einem alten Freund und Handballkameraden, der bei der Bank arbeitet, gemacht. Mir war klar, zu ihm habe ich ein besonderes Vertrauen. Das heißt nicht, dass mein Bankberater zwingend aus meinem Dorf kommen muss. Aber ich brauche doch diesen Kontakt in die Region, das ist die eigentliche Stärke der Sparkassen und der Volksbank. Wenn man aber immer nach Gießen auf die Hauptfiliale eingeladen wird, mit wechselnden Ansprechpartnern, dann rückt dieser Gedanke, Partner der Region zu sein, den sich die Banken auf die Fahnen schreiben, in die Ferne. Das finde ich schade.

In den sechs Ortsteilen der Gemeinde Langgöns gibt es aktuell nur zwei Filialen und Automaten, ausschließlich im Kernort.

An einer Stelle werde ich tatsächlich unbequem. Für den Kernort Lang-Göns ist die Sparkasse Gießen zuständig, diese hält ihr Angebot dort stabil. Die Langgönser Orte im Kleebachtal aber zählen zum Einzugsgebiet der Sparkasse Wetzlar. Diese erhebt damit Anspruch auf rund 800 Kunden im Bereich des Kleebachtals. Sie hält dort aber keine einzige Infrastruktur aufrecht. Es gibt keinen Bankautoamten, keine Filiale, keinen Kontoauszugsdrucker, gar nichts. Mit welchem Recht erhebe ich noch einen Anspruch, wenn ich meine Kunden zwinge, nach Hochelheim, Brand-oberndorf oder Rechtenbach zu fahren? Als ich als neuer Bürgermeister in die Verwaltungsräte gekommen bin, da hieß es noch vonseiten der Sparkasse Wetzlar, dass auf jeden Fall versucht werde, in jeder Kommune eine Filiale vorzuhalten. Von diesem Ziel hat man sich verabschiedet. Sicher gehören wir zum Randbereich, trotzdem ist die Situation bedenklich. Es stellt sich die Frage, warum die Gemeinde Langgöns noch Mitinhaber der Sparkasse Wetzlar ist. Eigentlich ist das nur noch historisch begründet.

Erwägen Sie als Gemeinde, sich als Mitinhaber zurückzuziehen?

Damit habe ich mich noch nicht befasst. Ich will diese Drohkulisse nicht aufbauen. Aber zumindest herrscht Gesprächsbedarf. Weil ich finde, dass das eigentlich so nicht geht.

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