Als Allendorf auch katholisch wurde

Vor rund 75 Jahren kamen hunderte katholische Vertriebene nach Allendorf/Lumda. Nils Damm hat über dieses Kapitel der Ortsgeschichte eine Facharbeit geschrieben, die nun veröffentlicht wird.
Vor rund 75 Jahren hat auch Mittelhessen eine Migrationsbewegung von historischem Ausmaß erlebt. Das nationalsozialistische Deutschland hatte Europa in einen verheerenden Krieg gestürzt, der viele Millionen das Leben kostete. Um das Kriegsende herum verließen dann ungezählte Menschen aus den vormals deutschen »Ostgebieten« ihre Heimat, flohen oder wurden vertrieben - und suchten in anderen Teilen Deutschlands Zuflucht.
Dieses Kapitel der frühen Nachkriegsgeschichte hat auch Allendorf/Lumda und seine Bevölkerung geprägt und verändert. Davon zeugt nun eine knapp 50-seitige Broschüre, die die Arbeitsgemeinschaft Heimatgeschichte aufgelegt hat. Der Inhalt: eine Facharbeit von Nils Damm aus Climbach.
Der heute 23-Jährige hatte sie im Rahmen des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten 2016/2017 als Schüler des Gießener Landgraf-Ludwig-Gymnasiums erstellt, ins Abitur eingebracht und wurde für seine Leistung schließlich als hessischer Landessieger des Nachwuchs-Wettbewerbs ausgezeichnet. Die Arbeitsgemeinschaft um Werner Heibertshausen will das Werk nun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Peter Stein hat zu diesem Zweck ein Titelbild gestaltet, um das Layout kümmerte sich Gerd Höricht. Finanziert wurde die Broschüre laut Heibertshausen aus Mitteln der Arbeitsgemeinschaft.
»Ich kannte zum Beispiel den Begriff ›Sudetendeutsche‹, aber nicht die Geschichte dahinter«, sagte Damm bei der Vorstellung seiner nun neu veröffentlichten Arbeit in der Allendorfer »Halle der Kunst« am Mittwoch. Über den Zweiten Weltkrieg habe er in der Schule viel erfahren, »aber wenig über die Jahre danach«. Als er sich dann für die Teilnahme am Wettbewerb unter dem Titel »Gott und die Welt. Religion macht Geschichte« interessierte, sei er auch auf eine Ausstellung der Arbeitsgemeinschaft zur Aufnahme Vertriebener in Allendorf aufmerksam geworden, habe sich mit Heibertshausen ausgetauscht, so Damm.
Aktuell studiert er in Gießen Wirtschaftswissenschaften, und die Arbeit sei eine gute Vorbereitung auf das Studium gewesen, gerade in Sachen Quellenkunde: Damm sprach mit Zeitzeugen in Allendorf, aber etwa auch in Gießen und Staufenberg, nahm Kontakt zur katholischen Frauengruppe in Londorf auf. »Es gab Zeitzeugen, die bei den Gesprächen in Tränen ausgebrochen sind, da wurde die Geschichte viel greifbarer.« Einige hätten auf dem Weg in die neue Heimat gerade einmal 30 Kilogramm an Gepäck mitnehmen können. Seiner Arbeit gab Damm den Titel »Die Rolle der Kirchen und des Glaubens bei der Integration der Vertriebenen in Allendorf an der Lumda 1946«. Nicht zuletzt seien aber etwa auch »Ausgebombte« aus Gießen in Allendorf gelandet.
Besonders interessant findet Damm, dass der katholische Glaube erst durch die Vertriebenen - Heibertshausen geht von mehreren hundert aus - im seit Jahrhunderten protestantisch geprägten Allendorf wieder Fuß gefasst habe. Kaum verwunderlich, dass die Integration der Neubürger nicht immer reibungslos lief. »Wenn in meiner Jugend ein katholisches Mädchen mit einem evangelischen Jungen gegangen ist, war das ein Problem«, blickte Heimatkundler Heibertshausen zurück. »Aber die Liebe hat es oft gelöst.«
Nach Damms Ansicht war Religiosität damals noch stark ausgeprägt, »auch, weil es eine Krisenzeit war«. Zwischen der evangelischen und der neu angekommenen katholischen Bevölkerung habe es im Alltag anfangs »unterschiedlich gut geklappt«, sagte Damm und nannte ein Beispiel: Anfangs habe man sich eine Kirche geteilt, »es gab Probleme, weil ein Bild von Martin Luther abgehängt wurde«. Später bauten Katholiken dann ein eigenes Gotteshaus in Londorf. Katholische Vertriebene brachten auch ungewohnte Riten wie Fronleichnamsumzüge aus ihrer Heimat mit - aber ebenso den Fasching, der heute selbstverständlich auch von Protestanten gefeiert wird.
Was können wir heute aus dieser Zeit der Integration lernen? »Ich tue mich schwer mit Vergleichen, die Situation ist heute anders«, sagte der Student. Damals seien die Neuankömmlinge auch Deutsche gewesen, wenngleich es wegen der unterschiedlichen Dialekte durchaus eine Sprachbarriere gegeben habe. »Die Leute wurden einfach in Häuser der Allendorfer zugeteilt, das wäre heute schwer vorstellbar.« Zumal auch die Alteingesessenen nach dem Krieg keineswegs im Luxus gelebt hätten.
»Ein spannendes Thema«, findet Heibertshausen, »und eine unheimliche Leistung, die die Bevölkerung damals geschafft hat«.