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Akuter Mangel

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Wenn pflegende Angehörige ins Krankenhaus müssen oder einmal eine Auszeit vom Pflegealltag benötigen, werden Kurzzeitpflegeplätze nötig. Im Landkreis Gießen gibt es davon viel zu wenige. SYMBOLFOTO: DPA © DPA Deutsche Presseagentur

Mehr als 11 000 Menschen über 65 sind im Kreisgebiet pflegebedürftig. Die meisten davon werden zu Hause betreut. Wenn Pflegende eine Auszeit brauchen, sollen Kurzzeitpflegeplätze Abhilfe schaffen. Doch im Landkreis sind sie äußerst rar. »Es gibt keine Sicherheit, einen Platz zu bekommen, wenn man ihn braucht«, sagt Experte Freitag. Er sieht ein strukturelles Problem.

In zwei Wochen beginnen in Hessen die Osterferien. Für viele pflegende Menschen im Landkreis Gießen gestalten sich die Urlaubsplanungen jedoch äußerst schwierig. Sie kümmern sich daheim um Angehörige. In der Theorie sollen Kurzzeitpflegeplätze ihnen die Möglichkeit geben, sich vom Pflegealltag zu erholen und selbst wieder zu Kräften zu kommen. Doch die Praxis sieht anders aus: Denn feste Kurzzeitpflegeplätze sind im Kreisgebiet äußerst rar.

Mehr als 11 000 Menschen über 65 Jahren im Landkreis Gießen sind pflegebedürftig. Über die vergangenen Jahre ist diese Zahl deutlich angestiegen. Allein von 2017 bis 2019 um 1765 Personen. Etwa drei Viertel dieser Menschen werden zu Hause gepflegt. Doch auf diese 8300 zu Pflegenden über 65 kommen nur 216 Kurzzeitpflegeplätze.

»Gerade in den klassischen Urlaubszeiten während der Schulferien sind kaum Plätze zu bekommen«, berichtet Nils Freitag, Berater beim Pflegestützpunkt des Kreises. Die Beratungsstelle ist meist die erste Anlaufstelle für Fragen rund um die Pflege und berät Angehörige kostenlos. »Für die Pflegeheime lohnt es sich nicht, entsprechende Plätze vorzuhalten, doch der Bedarf wird durch den demografischen Wandel immer größer«, sagt Freitag. Das sorgt sowohl bei Angehörigen als auch bei Beratungsstellen für Frustration.

Besonders bei der Kurzzeitpflege herrscht keine Planungssicherheit: »Hier gibt es ein konzeptionelles Problem«, sagt Freitag. »Es gibt keine Sicherheit, einen Platz zu bekommen, wenn man ihn braucht.« Wie groß die Nachfrage nach Kurzzeitpflegeplätzen genau ist, das kann keiner sagen. »Es gibt kein Meldesystem, um diese Zahlen zu erheben«, erklärt Freitag.

Die überwiegende Mehrheit der Kurzzeitpflegeplätze sind in den jeweiligen Einrichtungen »eingestreut«. Das heißt, es handelt sich um Übergangsbetten, die sich in normalen Pflegeeinrichtungen befinden. In der Praxis werden diese jedoch fast immer mit Langzeitpatienten belegt. Das gilt im Kreis genauso wie fast überall.

210 der 216 Kurzzeitpflegebetten im Kreis stehen deshalb nur selten zur Verfügung. Neben diesen sogenannten eingestreuten Plätzen gibt es noch »solitäre« - also solche, die ausschließlich für die Kurzzeitpflege bereitgehalten werden. Aktuell gibt es davon sechs im Kreisgebiet. Eine Zahl, die sich in den vergangenen fünf Jahren nicht verändert hat. »Solitäre Plätze lohnen sich wirtschaftlich einfach nicht für die Einrichtungen«, sagt Freitag.

Dieser Aussage kann auch Christa Hofmann-Bremer, Geschäftsführerin des Seniorenzentrums in Linden, nur beipflichten: »Der Bedarf ist groß, aber wir können nur bedingt Plätze freihalten.« Denn solitäre Plätze werden nicht voll gegenfinanziert, und freie Plätze können sich die Einrichtungen nicht leisten. »Wenigstens die Fixkosten müssten gedeckt sein«, sagt Hofmann-Bremer.

Derzeit gibt es in Linden sechs eingestreute Kurzzeitpflegeplätze. Anfragen können von der Einrichtung - genauso wie von anderen auch - meist nur sehr kurzfristig beantwortet werden. »Es kommt ganz auf die Belegung an. Manchmal acht Wochen vorher, manchmal auch erst eine Woche vor dem Beginn des benötigten Zeitraums«, sagt Hofmann-Bremer. »Die Situation ist schwierig, sowohl für die Einrichtungen als auch für die Angehörigen.« In Linden will man deshalb im Zuge des Erweiterungsbaus des Seniorenzentrums zwölf neue Kurzzeitpflegeplätze schaffen, um so dem Bedarf besser Rechnung zu tragen.

Noch schwerer ist es, einen Kurzzeitplatz zu erhalten, wenn es nicht um Senioren geht. Bei jüngeren Pflegebedürftigen ist es meist deutlich schwerer, einen Platz in einer Pflegeeinrichtung zu erhalten, erklärt Freitag: »Seniorenheime tun sich oft schwer damit, Plätze an jüngere Personen zu vergeben. Allerdings muss man dazu sagen, dass es auch für die Betroffenen in diesem Fall meist nicht optimal ist, mit den Senioren untergebracht zu werden.«

Erst vor Kurzem gab es in der Beratungsstelle einen Fall, bei dem ein älterer Mann aufgrund eines Krankenhausaufenthalts eine Kurzzeitpflege für seine 50-jährige Tochter suchte. »Wir konnten einfach keinen Platz finden«, berichtet Freitag. Als letzte Lösung blieb deshalb nur das Hinzuziehen eines ambulanten Pflegedienstes, der für die Dauer des Krankenhausaufenthalts zweimal pro Tag nach der Tochter schaute - den Rest des Tages blieb sie notgedrungen allein. »Das war für alle Beteiligten keine schöne Lösung«, meint Freitag.

Wer einen Platz sucht, der muss sich oft auf das Glück verlassen und meist bei zahlreichen Einrichtungen anrufen. Dafür hat der Pflegestützpunkt zwei Tipps: »Man sollte etwas über die Grenzen des Landkreises hinausschauen und nachfragen, ob es in dortigen Einrichtungen noch freie Plätze gibt«, rät Freitag. Suchende sollten sich zudem informieren, ob in der Umgebung ein Pflegeheim neu eröffnet hat. Diese sind meist noch nicht voll ausgelastet.

Eine dauerhafte Lösung für das Problem sehen sowohl Freitag als auch Hofmann-Bremer nur beim Gesetzgeber: »Der müsste die Bedingungen schaffen, dass es sich für die Einrichtung finanziell lohnt, Betten für die Kurzzeitpflege freizuhalten«, sagt Freitag. »Nur wenn es mehr solitäre Plätze gibt, kann sicher geplant werden.«

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