Zwischen Hilfe und Verzweiflung

Hilflosigkeit, Trauer, Angst um eigene Angehörige: Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei hat auch in Hessen ganz besonders die Menschen mit Wurzeln in der Türkei schwer erschüttert. Mit einer eigenen Hilfsaktion wollen sie Überlebende unterstützen.
Vor Kurzem hat ein Zusammenschluss türkischer Vereine, Verbände und Moscheegemeinden seine Initiative »Erdbebenhilfe Frankfurt-Rhein-Main hilft« gestartet. Im Industriegelände des Frankfurter Stadtteils Griesheim wurde mithilfe des Baudezernats innerhalb von Stunden eine 1100 Quadratmeter große Halle gefunden, und dann konnte die Hilfsaktion offiziell starten. So mancher ist seitdem im Dauereinsatz.
»Die Hilfsbereitschaft ist wirklich enorm«, sagt Atila Karabörklü, Vorstandsvorsitzender der Türkischen Gemeinde Hessen. »Innerhalb von zwei Tagen war das Lager voll.« Ein türkischer Unternehmer habe zusätzlichen Lagerraum in Mainz-Kastel zur Verfügung gestellt. Karabörklü kennt zahlreiche Menschen, die nach dem Beben spontan in die Türkei geflogen sind, um vor Ort zu helfen. Es gebe WhatsApp-Gruppen von Hilfsvereinen, um zwischen der Türkei und Deutschland Hilfe zu organisieren und das jeweils Benötigte dorthin zu schaffen, wo es gerade gebraucht wird - wenn es denn eine Transportmöglichkeit gibt. Andere unterstützten die Verteilung von Lebensmitteln, kochten Suppe, versuchten einfach, für die Überlebenden da zu sein.
Manche sind jeden Tag dabei
Auch an Freiwilligen im Griesheimer Industriegebiet herrscht kein Mangel. Vernetzung läuft über soziale Netzwerke oder türkischsprachige Lokalsender. Frankfurt ist eine der internationalsten Städte Deutschlands, mehr als die Hälfte der Einwohner hat eine Einwanderungsgeschichte in der Familie. Nun kommen auch viele, die sich bisher nicht in türkischen Vereinen engagiert haben. »Man muss nur sagen: Bitte meldet euch, und die Leute kommen von überall her«, sagt Karabörklü. Viele, die schon bei Beginn der Hilfsaktion mit angepackt haben, sind seitdem Tag für Tag dabei. Manche haben sich Urlaub genommen, andere kommen, wann immer sie Zeit haben. Mit Nazim Alemdar, dem Geschäftsführer des Frankfurter Kult-Kiosks »Yok Yok«, hat sich ein auch außerhalb der türkischen Community bekannter Frankfurter Arbeitshandschuhe übergestreift, um Spendenstapel auf Paletten oder in Lastwagen zu laden.
In der Teeküche wärmen sich die Helfer vorübergehend auf, Kaffee, Tee und Baklava werden herumgereicht. »Hier haben wir wenigstens das Gefühl, ein bisschen was tun zu können«, sagt eine Frau nachdenklich. Immer wieder kommen auch die Erdbebenopfer in Syrien zur Sprache. »Wir würden sofort auch dorthin Spenden schicken - aber wie? Für die Menschen dort ist alles noch viel schwerer«, seufzt einer der Freiwilligen. Bilal Can arbeitet als Pädagoge in einer Flüchtlingsunterkunft im Frankfurter Stadtteil Höchst. »Ich habe Spenden von den Bewohnern mitgebracht«, sagt er. »Die haben selbst nur wenig - aber sie wollen helfen.«
Can hat Angehörige in Gaziantep. Das Mitglied der Frankfurter Kommunalen Ausländervertretung denkt bereits nach vorn. »Ich habe die Oberbürgermeisterkandidaten angeschrieben, dass sie sich dafür einsetzen, dass zehn deutsche Städte eine Patenschaft für eine türkische Stadt in der Erdbebenregion übernehmen, um beim Wiederaufbau zu helfen. Frankfurt sollte Patenstadt von Gaziantep werden.«
Gebete auf Kartonpappe
Bei einigen Helfern kommt Aufregung auf, als ein Mann mit Selfie-Stick und Smartphone hinzukommt. Rafet El Roman ist kein Katastrophentourist, sondern gehört in der Türkei zu den bekanntesten Musikern des Landes, rund eine Million Fans folgen ihm auf Instagram. Mit selbst gedrehten Videos will er seinen Fol-lowern von der Hilfsaktion berichten. »Ich will erzählen, dass hier Kurden, Türken, Deutsche helfen und jeder zusammenhält.« Der Musiker bekommt auch viele Nachrichten von Fans aus der Erdbebenregion, die ihm ihr Schicksal schildern. In der Teeküche zeigt er das Handy-Video eines kleinen Mädchens, das lachend auf einem Sofa hopst. »Das war ihr fünfter Geburtstag«, sagt er. »In der Nacht darauf war das Beben. Das Mädchen, sein Bruder und die Mutter haben nicht überlebt.«
Die Umstehenden schütteln die Köpfe. Jeder kennt tragische Geschichten, teils aus dem eigenen Familien- und Freundeskreis. Vielen steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, wenn sie von Toten, Obdachlosen, Traumatisierten berichten. Das Anpacken und Helfen ist auch ein Weg, mit dem Gefühl der eigenen Hilflosigkeit umzugehen. Andere suchen Kraft im Gebet. Auch in der Lagerhalle knien zum Zeitpunkt des Nachmittagsgebets mehrere Männer nieder. Kartonpappe ersetzt den Gebetsteppich.