Viren früh auf dem Radar

Frankfurt - Die Bundesregierung will die Untersuchung der Abwasser nach Coronaviren ausweiten. Abgedeckt wären damit in Hessen alle großen Kläranlagen und insgesamt etwa 40 Prozent der hiesigen Bevölkerung, teilte das hessische Sozialministerium auf Anfrage dieser Zeitung mit. Zu den bereits existierenden Standorten in Darmstadt und Büdingen kämen demnach bis April neun weitere hinzu:
voraussichtlich Frankfurt und Wiesbaden mit jeweils zwei Kläranlagen sowie Hanau, Fulda, Gießen, Marburg und Kassel.
Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums erarbeiten Robert-Koch-Institut und Umweltbundesamt derzeit ein Konzept für eine »bundesweite Trendanalyse«. Hierfür hätten alle Bundesländer Standorte benannt. »Das Vorhaben befindet sich derzeit im Aufbau.«
Mit dem neuen Covid-Schutzgesetz hat das Abwassermonitoring als Frühwarnsystem an Bedeutung gewonnen. Definiert ist es darin als »ein neuer und ergänzender Indikator zur Einschätzung der SARS-CoV-2-Lage«. Als Bestandteil des »Pandemie-Radars« soll es dazu dienen, Rückschlüsse auf das Infektionsgeschehen zu ziehen.
Aufschluss über Varianten
Aus Abwasser lässt sich aber nicht nur ablesen, wie hoch die Virenlast derzeit in der Bevölkerung ist. Es kann auch Aufschluss darüber geben, welche Varianten es derzeit gibt. Und diese Frage, sagt Susanne Lackner im Gespräch mit dieser Zeitung, findet sie als Wissenschaftlerin wesentlich spannender.
Lackner ist Professorin an der Technischen Universität (TU) Darmstadt und schon seit geraumer Zeit damit beschäftigt, Abwässer auf Viren zu untersuchen. Polio hat die Expertin für Wasser- und Umweltbiotechnologie schon in den Ausscheidungen der Menschen entdeckt, Tuberkulose, Influenza. Im Sommer wurden Affenpocken nachgewiesen. Vor einem Jahr im November erbrachte ihr Team den ersten Nachweis der Omikron-Variante BA.1 - die Probe stammte vom Frankfurter Flughafen.
Die Darmstädter Wissenschaftler beschäftigen sich mit vielen Abwassermonitoringprojekten. Bereits seit September vergangenen Jahres etwa liefern die Darmstädter regelmäßig aktuelle Zahlen zum Auftreten besorgniserregender Varianten. Die Proben dazu stammen aus 18 großen und kleinen Kläranlagen in Hessen.
Zum Jahresende endet die Förderung des hessischen Sozialministeriums. Die Forscher sind involviert in die bundesweite Studie des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig und der TU Dresden, der sich Darmstadt vor zwei Jahren angeschlossen hat. Beteiligt sind sie auch an dem auf ein Jahr befristeten, von der Europäischen Union geförderten Projekt an bundesweit 20 Standorten, darunter Büdingen im Wetteraukreis. Dabei sollen sie herausfinden, welche Methode am besten geeignet ist.
Fest steht bereits, dass das Frühwarnsystem funktioniert. »Am 5. Oktober hatten wir den Peak«, sagt Lackner. Seitdem gehe die Virenlast zurück. Rund drei Wochen später registrierte das Gesundheitswesen sinkende Infektionszahlen. Ein brauchbarere Kompass also für Kliniken, die sich auf eine Infektionswelle besser vorbereiten können. Theoretisch könnte sich auch die Pandemiepolitik daran orientieren. Doch dafür, sagt Lackner, sei es noch zu früh. Das gelte auch für eine Antwort auf die Frage, welche Variante sich durchsetze. »Im Moment lässt sich das nicht eindeutig sagen.« Und es gebe darüber hinaus ja auch noch jede Menge Mutationen.
Sicher ist die Professorin, dass das Gesundheitswesen sehr vom Abwassermonitoring profitieren könnte. Doch noch fehle es an Kommunikationsstrukturen zwischen Umweltbiotechnologie und Gesundheitssektor. »Das müssen wir uns in Deutschland noch erarbeiten.« Dabei muss das Rad nicht neu erfunden werden. Denn andere Länder sind schon wesentlich weiter als Deutschland: Ein flächendeckendes Abwassermonitoring wird bereits in den Niederlanden, in Kanada und Australien praktiziert. Jutta Rippegather