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Viel draußen bei den Leuten

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Es geht bergauf: Boris Rhein im Treppenhaus der hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden. © Red

Ministerpräsident Boris Rhein empfängt zum Interview dort, wo er sich im Alltag kaum aufhält: In der Staatskanzlei. Nächstes Jahr im Oktober muss der 50-jährige Frankfurter sein neues Amt verteidigen. Zurzeit ist er viel unterwegs, um sich im Land bekannt zu machen. Hessens neuer erster Mann über Frauenquote, grüne Themen, wichtige Baustellen und seinen Konkurrenten in der Koalition.

Herr Rhein, in der CDU wird aktuell über eine Frauenquote diskutiert. Wie stehen Sie dazu?

Aus meiner Sicht ist die Frauenquote nur die zweitbeste Lösung. Auch bei den Frauen in der CDU gibt es eine Debatte darüber, ob eine Quote nicht das Bild vermittelt, bei Frauen würde der Leistungsgedanke nicht zählen. Andererseits muss man klar sagen, dass wir einen enormen Nachholbedarf haben. Die Repräsentanz von Frauen in der CDU ist nicht befriedigend. Deshalb besteht Handlungsbedarf.

In Hessen haben Sie gerade Justizministerin Eva Kühne-Hörmann durch einen Mann ersetzt...

Ich will vorwegschicken: Bundesweit stellt nur die CDU Hessen mit Ines Claus eine Fraktionsvorsitzende. Und auch die erste Landtagspräsidentin seit 75 Jahren in Hessen ist mit Astrid Wallmann eine Christdemokratin. Frau Kühne-Hörmann zu ersetzen, das ist mir schwergefallen, weil ich sie sehr schätze. Ich wollte jedoch mit Roman Poseck einen Experten aus der Justiz für die Justiz berufen. Aber: Wenn es im nächsten Jahr dazu kommt, dass wir eine Regierung bilden können, ist es mein Bestreben, dass CDU-Politikerinnen ordentlich repräsentiert sind.

Bei Ihrer ersten Regierungserklärung ist aufgefallen, wie stark Sie grüne Themen in den Vordergrund gestellt haben.

Auch da haben wir als CDU Nachholbedarf. Wir sind nicht immer an der Spitze des Fortschritts marschiert, was den Klimaschutz betrifft. Für mich ist Klimaschutz aber kein Thema, auf das die Grünen ein Copyright haben, die Bewahrung der Schöpfung ist ein urchristdemokratisches Thema. Es war immer das Interesse von Christdemokraten, dass wir unseren Kindern und Enkeln ein Land hinterlassen, in dem es Artenvielfalt gibt, in dem man gut leben kann, in dem es eine intakte und geschützte Umwelt gibt.

Werden Sie sich persönlich für mehr Windkraftanlagen starkmachen?

Ich plädiere dafür, dass wir eine Technologieoffenheit von 360 Grad haben. Wir schließen nichts aus und sind für alles offen, was den CO2-Ausstoß reduziert. Und wir sorgen in der Koalition schon jetzt dafür, dass die Windkraft ausgebaut wird. Hessen ist eins von sehr wenigen Bundesländern, das schon rund zwei Prozent seiner Fläche für Windkraft ausgewiesen hat. Unser Problem ist nicht der Wille zum Ausbau, sondern die vielen Klagen gegen die Anlagen und die zu lange Dauer der Genehmigungsverfahren.

Wenn man sich die Wahlergebnisse in Großstädten anguckt, stellt sich die Frage, ob die CDU da noch Volkspartei ist.

Volkspartei ist für mich keine Frage der Quantität, sondern der Qualität. Eine Volkspartei muss die ganze Bandbreite der Themen abbilden, und sie muss stark von ihren Mitgliedern getragen werden. Wir haben Probleme in großen Städten. Genau deshalb müssen wir deutlich machen, dass wir für Klimaschutz stehen.

Als Innenminister galten Sie als klassischer Konservativer, heute öffnen Sie sich für andere Themen. Was bedeutet es heute, konservativ zu sein?

Ich würde mich als Vertreter eines mitfühlenden Konservatismus bezeichnen. Das Problem des Konservatismus ist, dass er häufig nur mit wirtschaftsliberaler, kalter Politik verbunden wird. Die CDU ist aber christlich-sozial, sie ist liberal und konservativ. Das hat mich auch zur CDU gebracht. Sie kümmert sich um soziale Themen, um Familie, Pflege, Gesundheitsversorgung. Liberal bedeutet für mich, Menschen nicht vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Jeder soll sich frei entfalten können. Das gilt für mich etwa für die Frage, wer wen liebt - es ist nicht Sache des Staates, sich hier einzumischen. Und was das Konservative angeht, da habe ich mich nicht verändert. Bei der inneren Sicherheit hat der Staat stark zu sein, insbesondere, um die Schwächeren zu schützen.

Wie wollen Sie sich jetzt schnell bekannt machen als Landesvater? Sie treten bei der Wahl ja wohl gegen den sehr bekannten Grünen Tarek Al-Wazir an.

Ich schätze Tarek Al-Wazir über die Maßen, wir haben ein stark von Vertrauen geprägtes Verhältnis. Ich sehe überhaupt kein Problem darin, dass in einer Regierung zwei sitzen, die um die Staatskanzlei konkurrieren. Ansonsten habe ich seit meiner Wahl vielleicht acht Stunden in der Staatskanzlei verbracht, ich war viel draußen bei den Leuten. Ich mache Bürgersprechstunden, gehe zu Veranstaltungen und spreche mit den Menschen. Das macht mir viel Freude. Am Ende muss der Wähler im Oktober 2023 entscheiden, welche Partei er wählt.

Wenn man als Ministerpräsident einen Amtsbonus aufbauen will, muss man dann nicht auf Bundesebene eine Rolle spielen?

Wer Ministerpräsident ist, macht natürlich auch Bundespolitik. Wir als Hessen fordern die Bundesregierung zum Beispiel auf, schnell die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen für Schutzmaßnahmen, die ergriffen werden müssen, wenn die Corona-Lage sich im Herbst verschärft. Dafür brauchen wir ein klar formuliertes Infektionsschutzgesetz. Wir brauchen vor der Sommerpause Klarheit bei der Maskenpflicht, bei Zugangsbeschränkungen, bei Testpflichten. Wir brauchen weiter kostenfreie Bürgertests, und es muss klar sein, dass Schulen und Kitas offen bleiben.

Ein hessisches Dauerthema ist die Uniklinik Gießen-Marburg. Würden Sie diese heute noch einmal privatisieren?

Ich glaube, Sie würden heute keinen Krankenhausbetreiber mehr finden, der bereit wäre, ein Uniklinikum zu kaufen. Unikliniken sind Supra-Maximalversorger und leisten dazu noch den Großteil von Ausbildung und Forschung. Deshalb werden wir in der Finanzierung von Unikliniken nicht so weitermachen können. Wir brauchen den sogenannten Systemzuschlag, der Bund muss sich hier bewegen.

Wie nehmen Sie die Debatte um Antisemitismus auf der Documenta wahr?

Ich bedauere zutiefst, wie die Dinge auf der Documenta laufen. Für mich ist es unvorstellbar, dass antisemitische Aussagen auf einer Kunstausstellung in Deutschland Raum und Platz haben. Selbst Codes und Chiffren sind nicht zu akzeptieren. Und ich nehme es auch nicht hin, wenn man unter dem Deckmäntelchen der Israelkritik antisemitische Botschaften transportiert. Der Schaden für die Documenta ist enorm, es war falsch, vorab nicht mehr Gespräche zu führen. Und ich erwarte von den Verantwortlichen, dass sie jeden Stein umdrehen, ob irgendwo noch etwas Problematisches ist. Wir werden auch darüber nachdenken müssen, ob die Strukturen der Documenta so bleiben können.

Wie bewerten Sie die Entscheidung, die Ukraine zur EU-Beitrittskandidatin zu machen?

Ich halte das für exakt den richtigen Schritt. Die Ukraine ist ein wichtiger Teil Europas, und die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten verteidigen nicht nur ihre Freiheit, sondern auch unsere und die Idee der Freiheit überhaupt. Natürlich muss die Ukraine die Kriterien erfüllen, die alle erfüllen müssen, aber die Beitrittsperspektive ist richtig. Ich hätte mir gewünscht, dass der Kanzler früher in die Ukraine gereist wäre und Deutschland sich früher entschieden hätte, der Ukraine schwere Waffen zu liefern. Auch deshalb, weil das Bild Deutschlands in der Welt unter dieser Zögerlichkeit stark gelitten hat.

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