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TTIP? Im Kern richtig! Heute Proteste in sieben Städten

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Von: Burkhard Bräuning

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Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) ist in aller Munde. TTIP sei alternativlos, heißt es aus der CDU. Aus der SPD dagegen kommt Widerspruch, TTIP sei gescheitert. TTIP sei im europäischen Interesse, bekräftigt die EU. Mit den USA werde deswegen weiterverhandelt. Aus der Diskussion ergeben sich zwei Fragen: Was kann im europäischen Interesse sein? Was muss (weiter)verhandelt werden, damit TTIP im europäischen Interesse ist?

Im Kern geht es bei TTIP um einen Abbau von Handelshemmnissen zwischen zwei Wirtschaftsräumen. Dadurch sollen die Wirtschaften beider Wirtschaftsräume stärker wachsen. Das heißt, durch frei(er)en Handel zwischen der EU und den USA soll mehr Wohlstand geschaffen werden. Das Argument, dass Freihandel gegenüber Autarkie mit mehr Wohlstand einhergeht, stammt von Adam Smith (1776) und David Ricardo (1817). Es beruht auf absoluten und komparativen Kostenvorteilen. Wenn frei gehandelt wird, dann bestimmen Kostenvorteile die Spezialisierung eines Wirtschaftsraums bei der Güterproduktion. Jedes Gut wird in dem Wirtschaftsraum produziert, wo es am günstigsten produziert werden kann. Dadurch entsteht mehr Wohlstand.

Ist ein Wirtschaftsraum gegenüber einem anderen Wirtschaftsraum in der Lage, ein Gut mit absolut weniger Ressourceneinsatz zu produzieren, hat er einen absoluten Kostenvorteil. Hat jeder Wirtschaftsraum einen absoluten Kostenvorteil bei mindestens einem Gut, dann wachsen die Wirtschaften dieser Wirtschaftsräume durch Freihandel, wenn sich jeder Wirtschaftsraum darauf spezialisiert. Die Wirtschaften wachsen aber auch dann durch Freihandel, wenn jeder Wirtschaftsraum nur einen komparativen Kostenvorteil bei mindestens einem Gut hat und sich darauf spezialisiert. Hat ein Wirtschaftsraum gegenüber einem anderen einen komparativen Kostenvorteil, ist er in der Lage, ein Gut mit relativ weniger Ressourceneinsatz zu produzieren. Praktisches Beispiel Dass Freihandel bei absoluten Kostenvorteilen für die Wirtschaftsräume vorteilhaft ist, ist intuitiv. Dass Freihandel auch ohne einen absoluten Kostenvorteil vorteilhaft sein kann, ist zwar weniger intuitiv, aber entscheidend. Grund ist, dass ein komparativer Kostenvorteil bei mindestens einem Gut unter allgemeinen Bedingungen existiert. Vor allem sind das unterschiedliche Produktionsmöglichkeiten. Die Vorteilhaftigkeit von Freihandel gegenüber Autarkie kann anhand eines Beispiels veranschaulicht werden: Es gibt zwei Wirtschaftsräume: EU und USA. In jedem Wirtschaftsraum können zwei Güter produziert werden: Brot und Wein. In der EU können entweder 60 Einheiten Brot oder 30 Einheiten Wein oder eine Kombination daraus produziert werden. In den USA sind es 100 Einheiten Brot oder 100 Einheiten Wein oder eine Kombination daraus. In beiden Wirtschaftsräumen wird zu jeder Einheit Brot eine Einheit Wein getrunken. Obwohl die Produktionsmöglichkeiten der USA die Produktionsmöglichkeiten der EU übersteigen und die USA sowohl bei Brot als auch bei Wein einen absoluten Kostenvorteil haben, ist Freihandel für beide Wirtschaftsräume vorteilhaft. Die EU hat nämlich einen komparativen Kostenvorteil bei Brot, weil ihre Opportunitätskosten (entgangene Erlöse oder Erträge, die entstehen, wenn man Kapital, Zeit und Arbeit investiert und dabei eine andere Möglichkeit, diese Produktionsfaktoren einzusetzen, nicht nutzt. Auch Alternativkosten oder Schattenpreis genannt) der Produktion von Brot niedriger sind. Produziert die EU eine Einheit Brot mehr, muss sie auf nur eine halbe Einheit Wein verzichten. Die USA müssen eine ganze Einheit Wein aufgeben. Herrscht Autarkie, produziert und konsumiert die EU 20 Einheiten Brot und 20 Einheiten Wein. Die USA produzieren und konsumieren 50 Einheiten Brot und 50 Einheiten Wein. Damit schöpfen beide Wirtschaftsräume ihre jeweiligen Produktionsmöglichkeiten aus. Insgesamt werden 70 Einheiten Brot und 70 Einheiten Wein produziert und konsumiert. Herrscht Freihandel, kann sich die EU auf die Produktion von Brot spezialisieren und Wein aus den USA importieren. Die USA können sich auf die Produktion von Wein spezialisieren und Brot aus der EU importieren. Eine Spezialisierung der beiden Wirtschaftsräume kann so aussehen, dass die EU zwei Einheiten Wein weniger produziert, sodass dort 24 Einheiten Brot und 18 Einheiten Wein anfallen, und die USA drei Einheiten Brot weniger produzieren, sodass dort 47 Einheiten Brot und 53 Einheiten Wein anfallen. Wieder schöpfen beide Wirtschaftsräume ihre jeweiligen Produktionsmöglichkeiten aus. Insgesamt werden 71 Einheiten Brot und 71 Einheiten Wein produziert und gehandelt. In der EU können jetzt 20,5 Einheiten Brot und 20,5 Einheiten Wein konsumiert werden. In den USA sind es 50,5 Einheiten Brot und 20,5 Einheiten Wein. Da jeweils mehr konsumiert werden kann, ist Freihandel für beide Wirtschaftsräume vorteilhaft. Gegenüber Autarkie geht Freihandel mit mehr Wohlstand einher. Im Kern scheint TTIP also nicht nur im europäischen Interesse zu sein, sondern auch im amerikanischen. Es hat das Potenzial, mehr Wohlstand zu schaffen. Produktionsmöglichkeiten Das Potenzial, das TTIP zur Schaffung von mehr Wohlstand hat, hängt von den jeweiligen Produktionsmöglichkeiten beider Wirtschaftsräume ab. Sie müssen sich hinreichend voneinander unterscheiden, damit komparative Kostenvorteile existieren. Ursachen für unterschiedliche Produktionsmöglichkeiten sind insbesondere: geologische oder klimatische Bedingungen, Produktionstechnologien und Ressourcenausstattungen. Zwischen der EU und den USA herrschen unterschiedliche geologische und klimatische Bedingungen. Zum Beispiel wird deswegen in den USA hauptsächlich Sommergetreide angebaut. Dagegen hat in der EU auch Wintergetreide, das zum Keimen auf Kälte angewiesen ist, einen festen Platz in der Fruchtfolge. Die Produktionstechnologien dürften sich kaum unterscheiden. Sowohl in der EU als auch in den USA gibt es ein funktionierendes Ausbildungssystem, das einen hohen Stand des technischen Wissens gewährleistet. Die beiden Wirtschaftsräume sind hoch entwickelt. Die Ressourcenausstattungen unterscheiden sich zwischen der EU und den USA. In den USA sind Arbeit und Boden günstiger, weil weniger Knappheit herrscht. Bei Kapital dürfte es kaum einen Unterschied geben. Da unterschiedliche Produktionsmöglichkeiten bestehen, hat TTIP tatsächlich Potenzial, mehr Wohlstand zu schaffen. Im Kern scheint TTIP also richtig zu sein. Trotz dieses positiven Potenzials, ist der Abbau von Handelshemmnissen problembehaftet. Das liegt insbesondere daran, dass die gehandelten Güter keine homogenen, sondern heterogene Güter (Produkte) sind. Probleme sind, dass unterschiedliche Produktstandards existieren und unterschiedliche Philosophien des Verbraucherschutzes vorherrschen. Beim Verbraucherschutz gilt in der EU das Vorsorgeprinzip. Zum Schutz der Verbraucher gibt es viele Vorschriften. Nur dann, wenn ein Produkt allen Vorschriften genügt, darf es verkauft werden. Damit soll einem Schaden (ex ante) vorgebeugt werden. Entsteht dennoch ein Schaden durch ein vorschriftsmäßiges Produkt, kann sich der Hersteller auf die Vorschriften berufen. Er haftet dann nicht. Haftungsprinzip in den USA In den USA ist das anders. Beim Verbraucherschutz gilt dort das Haftungsprinzip. Es gibt kaum Vorschriften. Dafür ist der Hersteller eines Produkts für den Schutz der Verbraucher verantwortlich. Entsteht ein Schaden durch ein Produkt, nützt es dem Hersteller nur wenig, sich auf die Vorschriften zu berufen. Er haftet dann mit seinem Vermögen. Damit soll der Schaden (ex post) behoben werden. Für beide Philosophien gibt es Argumente. Problem ist, dass sie sich kaum vereinbaren lassen, ohne dass es zu Wettbewerbsverzerrungen kommt. Das kann anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht werden: Eine Lösung zum Abbau von Handelshemmnissen zwischen der EU und den USA besteht darin, unterschiedliche Produktstandards gegenseitig anzuerkennen und die Produkte entsprechend zu deklarieren. Diese Lösung liegt nahe, weil sie die Produktvielfalt erhöht und die Verbraucher in die Lage versetzt, selbst entscheiden zu können, was sie kaufen wollen. Zudem sind europäische Verbraucher mit dieser Lösung vertraut, weil sie mit dem Leitbild des mündigen Verbrauchers vereinbar ist und der Binnenmarkt der EU genauso funktioniert. Allerdings werden europäische Hersteller durch diese Lösung benachteiligt. Sie müssen die höheren Produktstandards erfüllen, die sich aus dem Vorsorgeprinzip ergeben. Deshalb produzieren sie mit höheren Kosten. Dadurch sind europäische Hersteller sowohl in der EU als auch in den USA weniger wettbewerbsfähig als amerikanische Hersteller. Da europäische Hersteller in den USA trotzdem für Schäden haften, haben sie auch keinen ausgleichenden Wettbewerbsvorteil. Eine Idee zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen besteht darin, sich auf den jeweils höchsten Produktstandard zu verständigen. Gelingt das, müssen Produkte nicht aufwendig deklariert werden. Diese Lösung erscheint attraktiv, weil die Verbraucher maximal geschützt werden. Das »Chlor-Hühnchen« Allerdings ergibt sich ein anderes Problem. Es muss Einigkeit darüber herrschen, was der höchste Produktstandard ist. Am Beispiel des »Chlor-Hühnchens« zeigt sich, dass es schwierig ist, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Das »Chlor-Hühnchen«, das Maskottchen europäischer TTIP-Kritiker, ist ein Hühnchen, das nach dem Schlachten und Ausnehmen durch ein Chlorbad gezogen wird, um es zu desinfizieren. Diese Desinfektion entspricht dem amerikanischen Produktstandard. Europäische TTIP-Kritiker meinen, dass ein solches Hühnchen europäischen Verbrauchern nicht zuzumuten sei – auch dann nicht, wenn es entsprechend deklariert ist. Das heißt, sie halten den amerikanischen Produktstandard für zu niedrig. Nicht nur die Amerikaner, sondern auch das Bundesinstitut für Risikobewertung kommen aber zu einem anderen Schluss. Europäische Hühnchen ohne Chlorbad seien mit Bakterien wie Campylobacter oder Salmonellen belastet, die für die menschliche Gesundheit bedenklicher seien als amerikanische Hühnchen mit Chlorbad. Das heißt, das Bundesinstitut für Risikobewertung hält den US-Produktstandard für höher als den europäischen Produktstandard. Die Idee, sich auf den jeweils höheren Produktstandard zu verständigen, ist ohne gemeinsamen Maßstab kaum möglich, und ein gemeinsamer Maßstab liegt derzeit nicht vor. Um das positive Potenzial auszuschöpfen, muss mindestens darüber (weiter)verhandelt werden. Investitionsschutz Worüber auch (weiter)verhandelt werden muss, ist der Investoren- beziehungsweise Investitionsschutz. Investitionen von internationalen Investoren sollen rechtlich geschützt werden, damit mehr investiert wird. Dieser Streitpunkt erscheint aber weniger problematisch, weil Regeln zum Investitionsschutz entbehrlich sind. Sowohl in der EU als auch in den USA gibt es ein funktionierendes Rechtssystem. Statt privater Schiedsgerichte können öffentliche Handelsgerichte eingerichtet werden, sodass keine Paralleljustiz entsteht. Ferner existieren weitere Streitpunkte wie das Beschaffungswesen der öffentlichen Hand. Wohingegen öffentliche Aufträge in der EU ausgeschrieben werden, werden öffentliche Güter in den USA freihändig beschafft. Diese Streitpunkte können aber problemlos dadurch ausgeräumt werden, indem einheitliche Regeln für beide Wirtschaftsräume getroffen werden. Ich hoffe, mir ist es gelungen, meine zwei Fragen hinreichend zu beantworten. TTIP hat tatsächlich Potenzial, mehr Wohlstand zu schaffen. Um das Potenzial auszuschöpfen, muss aber über den Abbau von Handelshemmnissen (weiter)verhandelt werden. Zwei sehr informative Aufsätze, die ich empfehlen kann, sind einerseits »TTIP: Transatlantic Trade and Investment Partnership« von Diane Bingel (WISU, 2016) und anderseits »TTIP: Proteste, Probleme, Perspektiven« von Henning Klodt (WiSt, 2016). Dr. Andreas Hildenbrand ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ins-titut für Betriebslehre der Agrar- und Ernährungswirtschaft des Fachbereichs für Agrarwissenschaften, Ökotrophologie und Umweltmanagement der Justus-Liebig-Universität Gießen. (dpa). Der Widerstand, nicht nur gegen TTIP, sondern auch gegen CETA, das geplante Abkommen der Europäischen Union mit Kanada, dauert an. Heute sind in sieben deutschen Städten Demonstrationen sowohl gegen TTIP als auch gegen CETA geplant. Die Organisatoren wollen Hundertausende auf die Straße bringen. »Wir hoffen, bundesweit auf mehr als 250 000 Teilnehmer zu kommen«, sagte Roland Süß von Antiglobalisierungsbündnis Attac Deutschland. Allein in Berlin rechnen sie mit 80 000 Teilnehmern. Demonstriert wird auch in Hamburg, München, Köln, Frankfurt/Main, Stuttgart und Leipzig. In Frankfurt werden rund 20 000 Teilnehmer erwartet. Die Veranstaltung steht unter dem Motto »Für einen gerechten Welthandel«. In dem Frankfurter Demobündnis haben sich rund 150 regionale Organisationen zusammengeschlossen. Wegen der Kundgebung und Demonstration dürfte es im Innenstadtbereich der Mainmetropole zu Verkehrsbehinderungen kommen. Mehrere Straßenbahnlinien werden in dieser Zeit nur bis zum Hauptbahnhof fahren, teilte die Verkehrsgesellschaft Frankfurt (VGF) mit. S- und U-Bahnen könnten den Fahrgästen als Alternative dienen.

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