Trommeln in der Nacht auf gepflastertem Platz

Wetzlar - Die Wetzlarer Festspiele haben Zuwachs bekommen. Erstmals dient ein großflächig gepflasterter Platz im modernen Leitz-Park als Spielort, auf dem kein Baum Schatten spendet oder gar für lauschige Atmosphäre wie im Rosengärtchen sorgt. Doch Devid Striesow ist ein brillanter Vorleser, und so nimmt er das Publikum mit in die Welt des Oskar Matzerath, der sich die Seele aus dem Leib trommelt.
Es ist, als entdecke man den Bestseller von Günter Grass völlig neu. Striesow, viel beschäftigter Film- und Fernsehschauspieler, hat Passagen aus der »Blechtrommel«, dem knapp 800 Seiten starken Meisterwerk, derart geschickt ausgewählt und zusammengestrichen, dass sich unweigerlich Bilder im Kopf entwickeln. Dabei muss man den Film von Volker Schlöndorff gar nicht kennen, so plastisch gestaltet der 48-Jährige seinen Vortrag, der ganze Spielszenen vor dem inneren Auge ablaufen lässt. Striesow jongliert gekonnt mit den Worten und der wunderbaren Sprache des Literaturnobelpreisträgers. Messerscharf setzt er seine Betonungen und Akzente.
Marimba bis Becken zur Untermalung
Dabei konzentriert er sich ganz und gar auf die Figur des Oskar Matzerath, der an seinem dritten Geburtstag beschließt, das Wachsen einzustellen, fortan nur noch seine Trommel sprechen zu lassen und mit seiner hohen Stimme Gläser und Fenster zum Springen zu bringen.
Was liegt näher, als dieses expressive Geschehen akustisch mit allerlei Schlagwerk zu untermalen? Stefan Weinzierl hat Vibraphon, Marimba, große Trommel, Becken und anderes mehr um sich herum auf der Bühne aufgebaut. Eine Vielzahl von Instrumenten, denen der Musiker aus Hamburg einfühlsam immer wieder stimmungsvolle Töne entlockt, sie elektronisch verstärkt, in Wiederholungsschleifen den Rhythmus vorgibt. Eine der wundervollsten Szenen entspinnt sich, als Striesow mit vergnügtem Lächeln Oskar Matzerath auf die Maiwiese zum Parteiaufmarsch schickt und dieser mit diebischem Vergnügen auf seiner Trommel die Marschmusiker mit einem Walzer aus dem Takt bringt. Hier nimmt Weinzierl in perfektem Spiel die Worte Striesows auf und setzt sie so lange kongenial um, bis der Donauwalzer endlich erklingt.
Nach der Pause
wird der Ton rauer
Überhaupt gibt es viel zu schmunzeln in der gut zweistündigen Performance an diesem sonnigen Freitagabend. Wenn der kleine Oskar dem Jesukind in der Kirche sorgfältig seine Trommel umhängt und gespannt auf das Wunder wartet: Kann Jesus nun trommeln oder will er einfach nicht? Wenn das Brausepulver in Marias Hand so schön zischt und blubbert und der inzwischen 16-jährige Oskar sein »Gießkännchen« spürt.
Aber »Die Blechtrommel« ist auch ein politischer Roman, schließlich zeichnet Grass hier eindringlich die Entwicklung Deutschlands von der Machtergreifung der Nazis bis zum Kriegsende nach. Nach der Pause wird Striesows Ton rauer: »Es war einmal ein leichtgläubiges Volk, das an den Weihnachtsmann glaubte, der in Wirklichkeit der Gasmann war.« Das Podium leuchtet in gleißendem Rot auf und Weinzierl marschiert lautstark trommelnd über den Platz zur Bühne. Später wird er hier ein gewaltiges Trommelfeuer entfachen, wenn Danzig im Flammenmeer des Krieges brennt.
Und Oskar? Der legt seine Blechtrommel ins Grab zum verhassten Vater, der von den Russen erschossen wurde, bevor er an seinem verschluckten Parteiabzeichen erstickt. Eine lebendige Wiederbegegnung mit einem Stoff, der nichts an Aussagekraft verloren hat. Ein Jahrhundertroman eben. Marion Schwarzmann