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Schwieriges Gedenken

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Stahlplatten und unerreichbare Türklinken symbolisieren die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. So soll das Mahnmal nach Vorstellung der Jury aussehen. GRAFIK: ADRIAN KOERFER © Red

Es ist ein wuchtiges Denkmal, das der Dimension der sexualisierten Gewalt an der ehemaligen Odenwaldschule in Heppenheim gerecht werden soll. Vier mal vier Meter groß, 3,40 Meter hoch sollen Stahlplatten in die Höhe ragen, die Türklinken in unerreichbarer Höhe. Immer noch gibt es Streit darüber - aber auch Fortschritte.

So könnte der Gedenkort auf dem Geländer der früheren Privatschule in Heppenheim aussehen, wo jahrzehntelang viele Hundert Kinder und Jugendliche zu Opfern des sexuellen Missbrauchs geworden sind und einer der übelsten pädosexuellen Täter der Republik lange Zeit als Schulleiter waltete. Es wäre ein Zeichen mit bundesweiter Ausstrahlung, das möglicherweise noch dieses Jahr realisiert werden soll. Deshalb schaltet sich auch der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, in die Diskussion ein. Er würde ein solches Mahnmal befürworten.

Die Debatte hatte sich lange verhakt, nun gibt es Zeitvorstellungen und einen Finanzierungshorizont. Wie so oft in der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs stehen sich Gruppen von Betroffenen gegenüber. Nicht alle Opfer halten ein solches Mahnmal für sinnvoll und notwendig. Auch weil es bereits eine ältere Skulptur gibt, deren Bedeutung verschieden interpretiert wird.

Debatte erschwert

Die Überlegungen, die von dem Missbrauchsbetroffenen Adrian Koerfer ausgingen, sind weit fortgeschritten. Mehrere Entwürfe liegen vor. Im Juni vergangenen Jahres entschied eine Jury, welches Mahnmal sie bevorzugen würde. Drei Opfer sexuellen Missbrauchs gehörten dem Gremium an, darunter ein ehemaliger Odenwaldschüler, dazu drei Professoren der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Offenbach und drei Vertreter der Politik. »Jetzt geht es darum, auf politischer Ebene zu einer Einigung zu kommen und klarzumachen: Wir wollen dieses Mahnmal. Wir wollen öffentliches Gedenken. Wir wollen eine Gedenkstätte für die Opfer der Verbrechen, an deren Begünstigung unsere Institutionen beteiligt waren«, sagt Koerfer.

Das Mahnmal, für das sich die Jury unter sieben Entwürfen entschieden hatte, stammt von ihm - ohne dass die Juroren wussten, wer die Urheber waren. Auch das erschwert die Angelegenheit, denn es wird in der internen Debatte problematisiert, dass der Antreiber im gleichen Zusammenhang als Künstler in Erscheinung tritt. Von Koerfer jedenfalls stammt das Werk mit den ineinander verkeilten Eisenplatten, die man für riesige Türen halten kann.

Das Missbrauchssystem an der reformpädagogischen Internatsschule war 1999 durch einen Bericht in der »Frankfurter Rundschau« (FR) öffentlich bekannt geworden. Erst nach einem weiteren FR-Artikel gut zehn Jahre später zog es Konsequenzen nach sich. Auch das Land Hessen und der Landkreis Bergstraße hatten vorher nicht reagiert, die für die Aufsicht über den Schul- und Internatsbetrieb zuständig waren. Daher geht es nun vor allem darum, ob die staatlichen Stellen bereit sind, ein Zeichen der Erinnerung zu setzen, das auch ihre eigene Verantwortung berücksichtigt.

Noch im Juli 2010, kurz nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe, war die Stahlskulptur »Keimen und Wachsen« des Altschülers Daniel Brenner auf dem Gelände aufgestellt worden. Sie zeigt einen Baum ohne Krone, einen austreibenden Keimling und eine Hand. Sie sollte ein Ort des Gedenkens an die Opfer werden. Aus Koerfers Sicht war das lediglich ein »pied-à-terre«, ein erstes öffentliches Zeichen der Opfer, die sich zu outen begannen. Andere Opfer halten Brenners Denkmal hingegen nach wie vor für ausreichend. Zu ihnen zählt die Vorsitzende des Opfervereins »Glasbrechen«, Sabine Pohle.

Als Brenner seine Skulptur schuf, war das wahre Ausmaß des Missbrauchsskandals unbekannt. Zunächst wurde die Zahl der Betroffenen auf 70 Schülerinnen und Schüler geschätzt, doch viele ahnten, dass es mehr sein könnten. Ende 2010 kamen die von der Schule beauftragten Juristinnen Claudia Burgsmüller und Brigitte Tilmann nach der Befragung vieler Betroffener zu dem Schluss, dass mindestens 132 Schüler und Schülerinnen zu Opfern von Übergriffen geworden seien.

1000 Opfer?

Heute geht man davon aus, dass mehr als 500, vielleicht sogar 1000 Schülerinnen und Schüler sexualisierte Gewalt an der Schule erleben mussten. Zu diesem Ergebnis kamen die Wissenschaftler Jens Brachmann (Rostock) und Florian Straus (München) nach umfangreichen Recherchen. Die meisten Täter seien in den 1960er bis 1980er Jahren an der Odenwaldschule beschäftigt gewesen.

Ein Mahnmal in Heppenheim sollte dieser monströsen und jahrzehntelangen Gewalt gerecht werden, findet Koerfer. Die gleiche Position vertritt eine Reihe prominenter Unterstützer des Vorhabens. An vorderster Stelle spricht sich der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, für das Projekt aus. Rörig sagte der »Frankfurter Rundschau«: »Die Errichtung eines angemessen Mahnmals gegen sexuelle Gewalt, das der riesigen Dimension des Unrechts entspricht, das den Odenwaldschülern dort durch Lehrkräfte angetan wurde, unterstütze ich sehr.«

Auch Brigitte Tilmann, die ehemalige Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt, die bei ihren Recherchen mit vielen Betroffenen des sexuellen Missbrauchs Kontakt hatte, wünscht sich ein deutlich sichtbares Mahnmal. Es gehe dabei »um die öffentliche Feststellung: Da ist Unrecht geschehen«, betont Tilmann.

Das Land Hessen könnte dabei eine treibende Kraft sein. Der Grünen-Landtagsabgeordnete Marcus Bocklet, der seit langer Zeit an der Seite der Betroffenen der Odenwaldschule steht, gehörte der Jury an, die sich für den Koerfer-Entwurf entschied. »Ich finde ihn sehr beeindruckend«, sagt der Grünen-Politiker. Ihm gehe es um ein Mahnmal, »das den Schrecken dieses Ortes sichtbar macht«. Das hessische Sozialministerium will offenbar etwa 40 000 Euro der veranschlagten rund 60 000 bis 70 000 Euro für die Umsetzung des Entwurfs übernehmen. Der Landkreis und die Stadt Heppenheim sind bei den Kosten mit im Boot. Doch neben den Befürwortern gibt es auch Gegner eines großen Mahnmals, nicht zuletzt die Ex-Odenwaldschülerin und einstige Mitstreiterin Koerfers, Sabine Pohle. Sie steht heute an der Spitze des Opfervereins »Glasbrechen«, aus dem sich Koerfer und andere zurückgezogen haben. »Koerfer hat irgendwann entschieden, dass man ein weiteres Mahnmal bräuchte«, beschreibt Pohle die Entwicklung aus ihrer Sicht. »Warum, hat sich für uns nicht erschlossen.« Sie halte das Denkmal von Daniel Brenner, »das wir alle gemeinsam ausgesucht haben«, nach wie vor für angemessen.

Ein Signal setzen

In dieser Gemengelage fällt es manchen Entscheidungsträgern schwer, Position zu beziehen. Etwa dem Bürgermeister von Heppenheim, Rainer Burelbach (CDU). Ihm sei bekannt, »dass eine Gruppe ein weiteres Mahnmal will«, schildert er. Aber »auf einmal gab es Streitereien zwischen zwei Opferorganisationen«. Mit E-Mails, in denen er teilweise beschimpft worden sei. In dieser Situation strebe er kein neues Mahnmal an. Die Juristin Tilmann möchte sich hingegen nicht damit abfinden, dass der Streit zwischen den Opfergruppen die Errichtung eines neuen Mahnmals lähmt. Zentral ist für Tilmann, dass nicht die Betroffenen dafür verantwortlich seien, ein Signal zu setzen, sondern die Gesellschaft und deren Institutionen. »Es geht um ein Zeichen der Gesellschaft für die Anerkennung des Leidens der Opfer«, betont Tilmann.

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