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Rechtsabbieger aus Europa

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Von: Redaktion

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Politiker nehmen gern den Begriff der Schicksalswahl in den Mund, um die Dramatik einer Entscheidung besonders hervorzuheben. Doch bei der Wahl zum EU-Parlament am 26. Mai geht es wirklich um viel - angesichts von Brexit und dem Erstarken rechter und nationalistischer Tendenzen in Europa. Auch in der Region haben EU-skeptische und -feindliche Parteien ihre Hochburgen. Doch es gibt Widerstand dagegen.

Für Ronny Zasowk ist klar: »Die NPD ist die Dexit-Partei - Nein zur EU, ja zu nationaler Souveränität!« So äußert sich der stellvertretende Bundesvorsitzende der »Nationaldemokraten« auf deren Internet-Seite. Der gebürtige Cottbuser und seine Partei fordern klar den Austritt Deutschlands aus der EU: Dieser »käme einer Auflösung der EU gleich, weil der bisherige Zahlmeister Europas dann die Geldbörse geschlossen lassen würde«.

Eine ihrer Hochburgen - auch bundesweit - hat die NPD in Büdingen im Wetteraukreis (10,2 Prozent bei den Kommunalwahlen 2016), wo sie immer wieder Aufmärsche organisiert. Aber auch im Lahn-Dill-Kreis, in Leun (2016: 11,2 Prozent), verfügt sie über einen relativ starken Rückhalt. Bei einer Polizeiaktion Ende vergangenen Jahres gab es dort neben Waffenfunden auch Festnahmen.

»Festung Europa« und »Dexit«

Die AfD formuliert in ihrem Wahlprogramm: »Wir lehnen ab, die EU zu einem Staat mit Gesetzgebungskompetenz und einer eigenen Regierung umzuwandeln, ebenso die Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Stattdessen tritt die AfD für ein Europa als Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner Staaten ein.« Dennoch ist die Ausdrucksweise auch bei ihrem Führungspersonal mitunter martialisch: »Wir brauchen die Festung Europa, es geht nicht anders«, formulierte es Spitzenkandidat und Parteivorsitzender Jörg Meuthen (Foto links mit Italiens rechtspopulistischem Innenminister Matteo Salvini) unlängst bei einer Wahlkampfveranstaltung in Gießen.

Mitte Januar hatte sich noch die Mehrheit auf dem AfD-Europa-Parteitag in Riesa für einen EU-Austritt Deutschlands, den »Dexit«, als Ultima Ratio ausgesprochen, wenn sich die Gemeinschaft in absehbarer Zeit nicht radikal verändern sollte. Dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen dies anders sieht, führte wohl dazu, dass im Wahl-O-Mat eine entsprechende Frage von der Partei mittlerweile geändert wurde: Aus »stimme zu« wurde »neutral« als übereinstimmendes Merkmal.

In Hessen zählen der Landkreis Fulda (16,3 Prozent bei der jüngsten Landtagswahl) und die Gemeinden Cornberg im Kreis Hersfeld-Rotenburg (22,3 Prozent) und Hirzenhain in der Wetterau zu den Hochburgen der der AfD. In Hirzenhain holte sie mit 23,3 Prozent die meisten Zweitstimmen und lag damit vor CDU und SPD. In der Gemeinde Neuhof im Landkreis Fulda legte die »Alternative« um 20,6 Prozentpunkte auf 24,4 Prozent zu. Aber auch im Kreis Gießen gab es erstaunlich hohe Werte: 31,9 und 26 Prozent in den Grünberger Stadtteilen Weitershain und Harbach, 21,5 Prozent in Reiskirchen-Hattenrod, 18 Prozent in Rabenau.

Auffällig ist, dass die AfD eher in ländlichen Gebieten Mittel- oder Osthessens erfolgreich ist, weniger in Städten wie Frankfurt, Darmstadt, Gießen oder Marburg. Fulda allerdings ist immer wieder Schauplatz von Aufmärschen und Aktionen rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppen. Wie beispielsweise »Der dritte Weg«, eine völkisch-nationale Partei, die mehrfach in der Domstadt durch Fackelmärsche oder Amtsanmaßung (»nationale Streifen« beim Stadtfest) auffällig wurde. Sie fordert zum Beispiel: »Europa erwache« - eine Parole, die an »Deutschland erwache« erinnert, die auf ein Sturmlied der SA zurückgeht. Der »Dritte Weg« lehnt die EU ab und will Europa in eine Art Eidgenossenschaft umwandeln.

Doch in Fulda regt sich auch massiver Widerstand gegen rechte und EU-feindliche Positionen. Rund 130 Teilnehmern eines Fackelmarschs des »Dritten Wegs« standen am 16. Februar gut 1500 Gegendemonstranten unter dem Motto »Fulda stellt sich quer« gegenüber. Dieses seit Ende 2015 bestehende Bündnis versteht sich als »Bildungsverein zur Aufklärung über Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und rechte Tendenzen in unserer Gesellschaft«.

»Wir unterstützen die EU-Aktivitäten der demokratischen Parteien und die Aktionen von Pulse of Europe. Wir haben auf diversen Veranstaltungen für den europäischen Gedanken geworben«, sagt Vorsitzender Andreas Goerke. Man gehe auch in Veranstaltungen von Rechtspopulisten wie zum Beispiel der AfD, diskutiere mit und versuche, Menschen zu überzeugen. Aktuell wende sich das Bündnis gerade mit einer Flyer-Aktion unter dem Motto: »Wir machen kein Kreuz mit Haken« an Erstwähler. »Wir wollen viele Erstwähler animieren, zur Wahl zu gehen und ihre Stimme pro Europa abzugeben.«

Im Gegensatz zum Ergebnis bei der Landtagswahl tritt die AfD laut Goerke im Raum Fulda aktuell so gut wie gar nicht in Erscheinung. Die Auftaktveranstaltung des Landesverbandes zur Europawahl in Fulda Mitte April sei eher ein Flop gewesen. Gezählt habe man 63 Teilnehmer aus Hessen, Thüringen und Bayern (die AfD spricht von 200). Nur eine Handvoll Teilnehmer sei aus der örtlichen Bürgerschaft gekommen.

Dass auch nur wenige Plakate gehängt sind, sieht Goerke in der »internen Zerrissenheit der AfD in Fulda« begründet. Deren Vorsitzender ist seit Januar der Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann. Dessen als antisemitisch bewertete Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2003 führte zu seinem Ausschluss aus der CDU. Allerdings versuche die AfD, ihre Parolen und populistischen Theorien verstärkt über die sozialen Medien zu verbreiten, sagt Goerke.

Anders die »Nationaldemokraten«: »Öffentliche Aktivitäten können wir zurzeit von der NPD feststellen. Mit Info-Ständen, provokativen Aktionen und breiten Plakatierungen dominiert die NPD den Wahlkampf im Landkreis Fulda.«

Den Grund, dass derzeit nationalistische Parteien in Europa auf dem Vormarsch sind, sieht Goerke überwiegend in mangelnder Information der Bürger. Von rechten Populisten werde bewusst ein falsches Bild von Europa vermittelt, sie spielten mit »Angst und Unwissenheit der kleinen Leute«. Bei Themen wie CO2-Ausstoß, Asyl-, Arbeitsmarkt- oder Steuerpolitik werde ein »Horrorszenario« entwickelt. Bedauerlicherweise werde von anderen Parteien zu diesen Themen zu wenig Aufklärung betrieben: »Es werden selten die Vorzüge von Europa dargestellt wie Reisefreiheit, das Programm Erasmus, die Unterstützung strukturschwacher Regionen. Die Solidarität der Europäer spielt nur eine untergeordnete Rolle.«

Ein weiteres Problem sei, dass in Debatten selten der Mensch, »der abhängig Beschäftigte«, eine Rolle spielt. Dadurch fühlten sich viele abgehängt und nicht wahrgenommen. Auch das spiele rechten Gruppierungen bei ihrem Ideal des Nationalstaats in die Hände: »Erst wir, dann die anderen.«

»Wir brauchen ein Europa der Menschen«, hält dem Goerke mit Blick auf Sozialstandards, Mindestlohn, Ausbildungsförderung, Altersversorgung, Entwicklungs- und Flüchtlingspolitik entgegen. (Foto: dpa)

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