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Zu radikal ist immer schlecht

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Von: Burkhard Bräuning

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Junge Menschen und Politik: Was erwarten sie? Was hoffen sie? Was gefällt ihnen? Was nervt sie? Schüler aus der Region geben im Vorfeld der Bundestagswahl spannende Antworten.

Bad Vilbel, Georg-Büchner-Gymnasium, an einem Vormittag im September. Fünf Schüler der PoWi-Leistungskurse wollen sich heute den Fragen zweier Journalisten stellen. Unsere Gesprächspartner: Julian, 17, Fußballer, eloquent (wie alle anderen auch). Und er weiß schon, wen er wählen wird. Julia, 18, weiß das auch (sagt es aber nicht), und sie denkt weit in die Zukunft. Kaan, 18, hat türkische Wurzeln und ebenfalls klare Präferenzen. Informiert hat er sich auch – und er spielt Gitarre. Lino, 17, hat den Wahl-O-Mat getestet. Er interessiert sich sehr für Umweltthemen. Insofern hat ihn sein Ergebnis nicht überrascht. Bleibt noch Christian. Er schwankt zwischen zwei Parteien, hat aber eine klare Meinung – und ein großes Vorbild. Aber nun etwas konkreter.

Die wichtigste Frage zuerst: Wen werden/würden Sie am 24. September wählen?

Julian: Ich würde die SPD wählen. Das Programm liegt mir nah, überzeugt mich. Ist auch mehr auf Jugendliche zugeschnitten. Und ich wünsche mir eine Ampelkoalition.

Julia: Ich weiß, wen ich wählen werde. Und ich finde es wichtig, dass man sich vor seiner Entscheidung gut informiert.

Kaan: Ich bin noch relativ unentschlossen. Habe aber eine Tendenz zur CDU. Ich gehe nach dem Motto »Lieber jemanden wählen, den man kennt, als dann etwas Unerwartetes zu bekommen«. Die SPD war für mich erst mal unten durch, als nach dem Air-Berlin-Skandal die Wirtschaftsministerin die Lufthansa unterstützt hat.

Lino: Ich bin eher links eingestellt. Heute Morgen habe ich den Wahl-O-Mat getestet, und es hat sich auch da herausgestellt, dass ich links der Mitte stehe. Aber ich würde nicht die Linke wählen, eher die Grünen – oder die SPD.

Mein Vorbild ist Nelson Mandela. Seinen Ansichten sollte man zustimmen können

Christian

Christian: Bei mir würde sich das auch auf zwei Parteien fokussieren. Aber da müsste ich dann noch mal tiefer einsteigen. Da ich erst 17 bin, habe ich noch etwas Zeit.

Wie informieren Sie sich über Politik und ganz speziell eine Bundestagswahl?

Julian: Vor allem über die Bundeszentrale für politische Bildung. Da werden die Themen wirklich sehr verständlich dargestellt – gedruckt und im Internet. Ich gehe auch auf die Websites des Bundestages. Man muss ein bisschen recherchieren, sich die Infos holen.

Julia: Ich sehe es wie Julian – erst mal generell ein Bild machen, dazu muss man dann aber auch mit Menschen über Politik reden, sich Meinungen anhören. Ich diskutiere oft mit meinem Papa und mit Freunden. Diese Gespräche motivieren mich, tiefer einzutauchen, die Dinge kritisch zu betrachten.

Kaan: Also ich informiere mich über Zeitungen, meistens lese ich die FAZ. Ich teile da aber auch Julias Meinung: Man muss mit anderen diskutieren, sich verschiedene Meinungen anhören. Ich rede auch mit meinem Vater, mit Freunden oder mit Leuten aus dem PoWi-LK.

Lino: Bei mir ist es so, dass ich Nachrichtensendungen anschaue. »Heute« und »Tagesschau« gucke ich jeden Tag, morgens höre ich Radio. Die aktuellen Dinge habe ich dann schon mal drin. Internet nutze ich auch, meist surfe ich auf den Seiten von Tageszeitungen. Und ich nutze die ZDF-Mediathek. Da schaue ich mir Dokumentationen an.

Christian: Ich kann mich hier nur anschließen. Man muss die Medien nutzen und darüber diskutieren. Es ist dann deutlich einfacher, die Themen zu verstehen. Und man lernt, die Meinungen anderer zu akzeptieren.

Ist Zeitung generell für Sie ein Thema?

Kaan: Die Zeitung auf Papier nicht mehr so wie früher. Vor allem nutze ich die Apps der Zeitungen.

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Ähnlich sehen es auch die anderen: Zeitungs-Apps haben alle auf dem Smartphone, Push-Meldungen werden stark genutzt. Gelesen werden überregionale Blätter wie »FAZ«, »Die Zeit« und der »Spiegel« – aber auch die lokale »Wetterauer Zeitung«.

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Welche Themen sind für Sie wichtig, wo bleiben Sie dran?

Julian: Der Fokus müsste mehr auf junge Leute gerichtet werden. Das Wahlalter sollte herabgesetzt werden. Politik konzentriert sich zu sehr auf ältere Menschen, es geht oft um Themen wie Rente. Ich will das nicht als unwichtig abtun. Aber ich finde, darüber geraten wir Jugendliche ein bisschen in Vergessenheit. Ich frage mich: Warum trifft man Politiker oft in Seniorenheimen, aber nicht in der Schule? Ich habe hier noch nie einen Politiker gesehen, der auch mal uns gegenüber seinen Standpunkt vertritt.

Wir sind hier multikulturell, es gibt keine Ausgrenzung

Kaan

Julia: Ich stimme Julian voll und ganz zu. Wir sind auch diejenigen, die später für die ältere Generation zu sorgen haben. Was mich sehr interessiert, ist die Umweltpolitik. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Denn es ist doch so, dass wir letztlich dafür verantwortlich sind, dass es den folgenden Generationen genauso gut geht wie uns heute. Wir müssen dafür sorgen, dass es so bleibt.

Kaan: Dem stimme ich zu, aber für mich ist auch Bildung ein wichtiges Thema. Ich finde, die Politik sollte sich etwas mehr mit uns Jugendlichen beschäftigen. Jetzt wird ja das Thema Dieselverbot diskutiert. Aber das Thema Bildung kommt ständig zu kurz. Die Politik sollte mehr in die Schulen und die Schüler investieren. Ich habe in meiner ganzen Schülerlaufbahn noch nichts von der Politik gespürt, außer G8/G9. Das war eher sehr negativ. Ich möchte mich als Schüler auch mal wertgeschätzt fühlen.

Lino: Meine drei Themen sind im Moment Umweltschutz, Lobbyismus und Europa. Umweltschutz und Lobbyismus – das passt ja ganz gut zusammen. Kaan findet, dass die Dieselaffäre nicht so wichtig ist. Ich schon, auch weil die deutsche Politik der Autoindustrie sehr nahe ist. Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit: Da hat die Industrie betrogen und kommt damit durch. Vielleicht passiert nach der Wahl noch was. Was mich ärgert: Die Klimaziele sind mit den Maßnahmen, die ergriffen wurden, nicht zu erreichen. Das ist überall so. Zu Europa: Da habe ich Sorgen wegen der nationalen Tendenzen und der Verletzung von Menschenrechten. Wir müssen dafür sorgen, dass das Projekt Europa in Gang gehalten wird und die nationalistischen Tendenzen gebremst werden.

Der Wettbewerb wird immer lauter ausgetragen, auch manipulativer

Julian

Christian: Ein Punkt, den ich auch für wichtig halte, obwohl er vielleicht für mich persönlich nicht so entscheidend ist, ist die Asylpolitik. Sie stellt ja einen großen Streitpunkt zwischen den einzelnen Parteien dar. Die Debatte hat auch dafür gesorgt, dass von rechts eine neue Bewegung entstanden ist. Das ist gefährlich. Für mich ist es wichtig, dass darauf geachtet wird, dass wir nicht zu stark nach rechts rücken. Wie es vor mehr als 70 Jahren gewesen ist. Das darf nicht noch mal passieren.

Was nervt Sie an der aktuellen Politik?

Kaan: Was mich nervt, ist erst mal der Air-Berlin-Insolvenzantrag. Es ist nicht gut, wie die Politik sich da einmischt. Besonders die Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries. Sie arbeitet darauf hin, dass die Lufthansa Air Berlin übernimmt. Ich finde, die Politik sollte sich da raushalten. Wir sagen ja immer, dass unsere Politik nicht nationalistisch ist wie zum Beispiel jetzt in den USA. Wie man sieht, ist es aber doch so.

Lino: Die Kritik ging ja von Ryanair aus. Aber da kann man genauso gut kritisieren, dass Ryanair Rabatte am Frankfurter Flughafen bekommt, dass eine Billigfluglinie überhaupt an diesen Flughafen kommt. Das ist auch eine Wettbewerbsverzerrung.

Julian: Mich stört der Wahlkampf, der jetzt schon seit Januar läuft. Der Wettbewerb wird immer lauter ausgetragen, auch manipulativer. Da werden diese Bots (Computerprogramme) eingesetzt. Damit wird eine Unterstützung für die AfD vorgegaukelt, die es so gar nicht gibt. Das gilt übrigens auch für die linke Seite. Zu radikal ist immer schlecht. Ich komme aber noch mal auf die Schulen zurück. Ich fände es gut, wenn man vor den Wahlen ein verbindliches Politikprogramm in den Schulen etablieren würde. Schüler – so mit 16, 17, 18 – müssten sich über mehrere Monate mit Politik beschäftigen. Jeder! Themen wären: Wie funktionieren Wahlen, was bedeutet es, in eine Partei einzutreten. Und was ist überhaupt eine Partei? Alle Schulformen müssten mitmachen. Denn wählen kann man nur, wenn man Ahnung hat, weiß, wie es funktioniert und wer für was steht.

Julia: Ich finde auch, dass Politik den Bürgern nicht nahe genug kommt. Ich habe oft das Gefühl, ich bin nicht wichtig genug, kann nichts selbst bestimmen. Damit stehe ich nicht alleine. Ich fühle mich nicht so, als würde die Politik auf mich zukommen, als hätte ich den gleichen Rang wie beispielsweise mein Vater. Daraus entsteht dann Politikverdrossenheit Viele gehen auch nicht wählen, weil sie nicht wissen, wie eine Wahl funktioniert.

Über mangelndes Engagement kann man sich bei Ihnen ja nicht beklagen. Wie groß ist denn das Interesse an Politik in Ihrem Freundeskreis?

Julian: In meinem Freundeskreis haben viele kein Interesse an Politik, die wollen sich einfach nicht damit befassen. Aber warum? Nicht, weil sie dumm sind. Es ist einfach uninteressant für sie.

Julia: Bei vielen ist das Interesse sehr oberflächlich. Sie reden zwar über Politik, aber sie wissen eigentlich gar nicht, worum es geht. Da ist nichts dahinter.

Kaan: Bei mir ist es so, dass ich ein Exot bin in meinem Freundeskreis. Uns geht’s einfach zu gut. Es ist kein Leidensdruck da, woraus dann Interesse wachsen könnte. Wir diskutieren über Fußball, aber nicht darüber, was der Schulz in seiner letzten Rede gesagt hat.

Also mir fällt da keine Person ein, von der ich sagen könnte: Ja, die inspiriert mich. Gandhi und Mandela kann man nennen, aber eine aktuelle Bezugsperson habe ich nicht

Julia

Lino: Ich kann mich dem anschließen. Ich habe ein paar Freunde, mit denen ich diskutieren kann. Das ist sehr produktiv. Ich finde, das Interesse kommt auch ein bisschen vom Elternhaus. Meine Eltern haben früh mit mir über Politik gesprochen. Und ich schaue Nachrichten. Das ist förderlich.

Christian: Zwei wichtige Punkte. Einmal ist es das familiäre Umfeld, dann der Einfluss von Schule und Medien. Familie kann man von außen schlecht beeinflussen, also den Eltern nicht vorschreiben, dass sie mit ihren Kindern über Politik reden sollen. Den Schulen aber schon. Man sollte sehr viel früher als jetzt mit PoWi-Unterricht beginnen.

Gibt es rechte Tendenzen in Ihrer Schule oder im Freundeskreis?

Kaan: Eher das Gegenteil, eine richtige Gegenbewegung. Wir sind hier multikulturell, es gibt keine Ausgrenzung.

Julian: Ich teste immer mal in meinem Freundeskreis aus, ob es da Anhaltspunkte gibt. Aber da ist nur Gegenwehr.

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Alle fünf Schüler suchen nach Möglichkeiten (oder haben sie bereits gefunden), sich zu engagieren – sozial, gesellschaftlich. Oder sie treiben Sport, machen Musik. Lino setzt sich ganz allgemein für den Umweltschutz ein. Julia ist konkret interessiert an der Mitarbeit bei Greenpeace und gerade dabei, ihren Lebensstil zu ändern – für die Umwelt. Julian spielt Fußball. Beim Sport sei es seinem Team ganz nebenbei gelungen, Flüchtlinge zu integrieren. Kaan engagiert sich im sozialen Bereich, will Jüngeren ein Vorbild sein. Im Gitarrenunterricht motiviert er Kinder, die aufgeben wollen. Er kümmere sich auch um alte Menschen (was die vier Mitschüler so kommentieren: »Das macht er wirklich!«) Christian ist sportlich aktiv, spielt Basketball und American Football. Christian: »Dabei begegnet man natürlich auch den verschiedensten Menschen.«

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Haben Sie Vorbilder, Politiker, die Besonderes geleistet haben?

Christian: Mein Vorbild ist Nelson Mandela. Seinen Ansichten sollte man zustimmen können. Obama war ein guter Politiker. Aus deutscher Sicht wäre da Konrad Adenauer. Er hat dafür gesorgt, dass Deutschland sich wieder als weltoffenes Land präsentiert.

Lino: Ich denke an Al Gore, der setzt sich sehr stark für die Umwelt ein. Gandhi möchte ich aber auch nennen. Es gibt immer inspirierende Politiker, aber ich sehe sie nicht als Lebensvorbilder.

Kaan: Absolutes Vorbild für mich ist der schon verstorbene (Mustafa Kemal) Atatürk. Er hat die diktatorisch geprägte Türkei zu einer Demokratie gemacht. Momentan geht es ja in die andere Richtung.

Julia: Also mir fällt da keine Person ein, von der ich sagen könnte: Ja, die inspiriert mich. Gandhi und Mandela kann man nennen, aber eine aktuelle Bezugsperson habe ich nicht.

Julian: Die größten Persönlichkeiten in der Geschichte waren die, die zwei zerstrittene Parteien oder ein zerrissenes Land wieder zusammengeführt haben. Adenauer war so einer. Atatürk? Kann ich nur unterschreiben.

Wir sind die Bürger. Unsere Interessen sollten vertreten werden

Lino

Was sonst noch gesagt wurde:

Lino: Wir sind die Bürger. Unsere Interessen sollten vertreten werden.

Lehrerin Eise: Ja, sie diskutieren sehr engagiert. Aber sie sind dabei auch sehr höflich miteinander.

Julian: Politik ist mehr als Nachrichten gucken. Man muss sich ernsthaft damit befassen. Gerade vor einer Wahl. Und besonders in einer Schule.

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