Rabenschwarze Intelligenz
In früheren Zeiten waren Kolkraben auf der gesamten Nordhalbkugel der Erde weitverbreitet. Zum Ende des 19. Jahrhunderts jedoch wurden sie vielerorts als »Schädlinge« gnadenlos verfolgt – fast bis zur Ausrottung. Mittlerweile ist der in der Mythologie so bedeutende Wotansvogel wieder zu beobachten.
In Deutschland war der große Rabenvogel in den 1950er Jahren bis auf Restbestände im Nordosten und im Alpenraum komplett verschwunden. In Hessen war die Art bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts selten geworden. Das letzte Paar wurde 1912 im Kreis Alsfeld beobachtet. Später wurde die Verfolgung verboten, was ab etwa 1950 wieder zu einer allmählichen Ausbreitung der verbliebenen Vorkommen führte. Die ersten hessischen Bruten konnten 1985 bei Melsungen und Friedewald nachgewiesen werden. In den folgenden Jahren breitete sich die Art weiter aus. Dabei wurden zuerst die störungsarmen großen Wälder der Mittelgebirge und zuletzt auch regelmäßig von Menschen frequentierte, kleinere Wälder und Gehölze der Ebenen besiedelt.
Der aktuelle Bestand liegt etwa 35 Jahre nach der Wiederbesiedlung bei etwas mehr als zweitausend Paaren. Das ist zwar eine kleine Zahl. Doch sie reicht aus, um dem eindrucksvollen Vogel beispielsweise im Vogelsberg und Krofdorfer Forst, aber auch um Staufenberg und Lich immer wieder zu begegnen. Oft machen Kolkraben zunächst durch ihren Ruf auf sich aufmerksam: ein weit tragendes, raues »Krock« oder ein wiederholtes »Krack-krack-krack«, manchmal auch ein resonantes »klong«. Immer viel tiefer, lauter und voller als die bekannten Rufe der verbreiteten Rabenkrähen. Die Krähe ist ein gutes Drittel kleiner, und ihr Schwanz ist deutlich kürzer als der lang gezogene Keilschwanz des Raben. Auch die langen, greifvogelartigen Schwingen fallen auf.
Sozial und kommunikativ
Fürsorglich und sozial sind die Raben – und wetterfeste Frühbrüter. Bereits jetzt haben die Kolkraben ihre Nester in alten Buchenwäldern wieder bezogen und beginnen bereits mit der Eiablage. Das Brutgeschäft dauert etwa drei Wochen, wobei das Männchen die Brütende mit Nahrung versorgt. Bei der rund 45 Tage dauernden Jungenaufzucht ergänzen sich Männchen und Weibchen. Es gibt sogar »Helfer« am Nest. Andere Raben werden in einem Revier, zum Teil sogar am Nest selbst geduldet. Diese Artgenossen helfen bei der Fütterung des brütenden Weibchens oder bei der Jungenversorgung. Damit beweist der Kolkrabe seine soziale Kompetenz. Der schlaue Kerl nutzt auch andere tierischer Helfer: Zwischen Rabe und Wolf gibt es eine bemerkenswerte Allianz. Oft begleiten Kolkraben Wolfsrudel, um sich an den Resten ihrer Beutetiere zu laben. Als Aasfresser erfüllen sie dabei eine wichtige Funktion im Kreislauf der Natur.
Kolkraben sind nicht nur sehr sozial, sondern zählen auch zu den intelligentesten Vögeln und sogar Wirbeltieren weltweit. Dass sie Zeigegesten zur Kommunikation untereinander nutzen, interpretieren Forscher als Beleg, dass sie in vielen geistigen Eigenschaften mit Affen vergleichbar sind und diese teils sogar übertreffen. Versuche haben gezeigt, dass sie ohne Zögern das Verschwinden einer einzelnen Person aus einer Gruppe von bis zu 35 Leuten bemerken. Dies war aufgefallen, als Tierfotografen Kolkraben an einer Futterstelle fotografieren wollten. Zwei Bekannte brachten den Fotografen zum Versteck, doch kamen die Raben nicht zum Futter, weil sie bemerkt hatten, dass statt der drei eingetroffenen Besucher nur zwei das Gebiet auch wieder verlassen hatten. Der Dritte musste sich also noch irgendwo aufhalten (nämlich im Fotoversteck). Die Fotografen kamen mit einer zunehmend größeren Anzahl an Begleitern zurück, aber erst bei einer Gruppe von 35 Leuten verloren die Raben den Überblick. Kein Wunder, dass die Intelligenz der Raben schon den Germanen aufgefallen war. In ihrer Mythologie waren es daher die beiden Raben Hugin und Munin, übersetzt etwa »der Gedanke« und »die Erinnerung«, die der Gott Odin, seit Richard Wagner auch als Wotan bekannt, jeden Morgen ausschickte, um über die Welt zu fliegen und ihm alle Neuigkeiten zu überbringen.