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Prozess gegen Polizisten in Gießen: Strafvereitelung aus Überforderung

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Der Angeklagte war beim Polizeipräsidium Mittelhessen als Polizist tätig. © Red

In über 20 Fällen soll sich ein ehemaliger Polizist der Strafvereitelung im Amt schuldig gemacht haben. Nun musste er sich im Verfahren am Amtsgericht Gießen den Tatvorwürfen stellen.

Polizisten sind es gewohnt, stark sein zu müssen - oder dies zumindest nach Außen hin auszustrahlen. Es gehört wohl zum Teil zur Jobbeschreibung, Herr oder Frau jeder Lage zu sein, den Überblick zu bewahren. Nur: Jedem Menschen wächst irgendwann einmal in seinem Leben etwas über den Kopf, das er später nur noch mit Mühe und Not wieder einfangen kann. Ein solcher Fall hat am Donnerstag die Gießener Justiz beschäftigt. Einem heute 45 Jahre alten Mann wurde vorgeworfen, sich in über 20 Fällen der Strafvereitelung im Amt schuldig gemacht zu haben. Er soll als Polizist Ermittlungsvorgänge erst nicht bearbeitet, später gefälscht und nicht verfolgt haben. Vor dem Schöffengericht am Amtsgericht Gießen zeigt sich der ehemalige Hauptkommissar geständig.

Dem Mann, der im Amtsgericht als Angeklagter sitzt, sieht man seinen Beruf an, seinen Traumberuf, den er mittlerweile an den Nagel gehängt hat. Der 45-Jährige ist groß, hat breite Schultern. Aber auch in der letzten Zuschauerreihe spürt man ihn innerlich beben. Es ist keine Floskel, wenn sein Verteidiger Carsten Marx sagt, sein Mandant leide seit Jahren unter dem Ermittlungsverfahren.

Hochdekoriert, hochbelobigt sei der Hauptkommissar gewesen, sagt Marx. Aus einem großen hessischen Polizeipräsidium sei er 2019 nach Gießen gewechselt, damit er nicht mehr so weit zur Arbeitsstelle pendeln muss. Denn 2014 war bei ihm eine chronisch-entzündliche neurologische Erkrankung festgestellt worden; seitdem hat er einen Schwerbehindertenstatus. Trotzdem stand er in der für Rohheitsdelikte zuständigen Ermittlungsgruppe in der Hierarchie recht weit oben, wie seine Vorgesetzte im Zeugenstand erzählt.

Jobwechsel sorgt für Entlastung

Zwischen März 2020 und Mai 2021 soll er aber als Sachbearbeiter zum Beispiel Anhörungsbogen für Zeugen oder Geschädigte nicht verschickt, aber dafür zurückdatiert haben, um dann fälschlicherweise anzugeben, dass die Adressaten die Dokumente nicht beantwortet hätten, wie Beatrix Taiti für die Staatsanwaltschaft in der Anklageverlesung ausführt. In einem Fall von schwerer Körperverletzung soll er behauptet haben, ein Geschädigter habe ihm mitgeteilt, dass von weiteren Ermittlungen abgesehen werden soll - was nicht stimmte. Das alles räumt der Angeklagte gegenüber dem Gericht unter dem Vorsitz der sensibel agierenden Richterin Sonja Robe ein.

Marx betont, der Polizist habe die Ermittlungsverfahren nicht behindert, um abzukassieren oder ihm bekannte Menschen zu schützen. Er sei schlichtweg überfordert gewesen. Zum einen wegen seiner Erkrankung, die man seinem Mandanten auf den ersten Blick nicht ansehe, betont Marx. Zum anderen sei bei dem Angeklagten das Fatigue-Syndrom diagnostiziert worden: also eine absolute Erschöpfung.

Eigentlich, sagt Marx, habe sein Mandant die Erkrankungen vor Gericht nicht ansprechen wollen. Aber sie seien ein Grund, warum es zu den Taten kommen konnte. Auch deshalb ist die Aussage seiner Therapeutin wichtig, die der Angeklagte zuvor von ihrer Schweigepflicht entbunden hat. Sie schildert als Zeugin, dass der Mann ab Juni 2021 - also nachdem die Taten entdeckt worden waren - bei ihr in Behandlung gewesen sei. Belastend sei für ihn gewesen, dass er wegen seiner neurologischen Erkrankung nicht mehr so leistungsfähig wie früher gewesen sei. Im Sommer 2022 habe er die Therapie erfolgreich beendet, sagt sie. Der größte Fortschritt sei gewesen, dass er sich beruflich umorientiert habe. Als er sich für den Jobwechsel entschieden hatte, habe sie bei ihm »eine starke emotionale Entlastung« bei ihm bemerkt.

Seine Vorgesetzte erklärt im Zeugenstand, sie habe einen »guten Eindruck« vom Angeklagten gehabt. Auffällig sei gewesen, dass er sich um sehr viele Vorgänge gleichzeitig gekümmert habe - im Schnitt um 40. Viele seiner Kollegen hätten 25 bis 30 Vorgänge im Schnitt bearbeitet. Die Ermittlerin erklärt dies unter anderem damit, dass unter den Kollegen einige Teilzeitkräfte seien, Der Angeklagte habe eine vergleichsweise gehobene Position als Hauptkommissar gehabt und noch Karriere machen wollen. Sie habe ihm angeboten, Fälle abzugeben, »aber das wollte er nicht«. Eine »Vorgangskontrolle« durch sie und eine weitere Vorgesetzte sei ab Herbst 2020 nicht möglich gewesen, weil die Proteste gegen den Ausbau der Autobahn 49 durch den Dannenröder Forst Polizeikräfte übermäßig stark gebunden habe.

Probleme wegen A 49-Protesten

Nachdem ihr Kollege von einer vorübergehenden Abordnung in einer anderen Abteilung zurückgekehrt sei, seien die Ungereimtheiten aufgefallen, sagt die Polizistin. Sie habe ihn konfrontiert - und er habe es zugegeben. Was passiert wäre, wenn er frühzeitig eine Überlastung angemeldet hätte, will Richterin Robe wissen. »Dann wäre klar gewesen, dass er für eine Führungsposition erstmal nicht in Frage kommt«, sagt die Beamtin.

Während Staatsanwältin Taiti eine Strafe von einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung wegen Strafvereitelung im Amt fordert, erkennt Rechtsanwalt Marx einen minderschweren Fall - und plädiert auf eine Geldstrafe. Den minderschweren Fall sieht Richterin Robe in 18 Fällen ebenfalls an und verurteilt den Angeklagten zu zehn Monaten auf Bewährung; zudem muss er 2000 Euro an den Tierschutzverein zahlen. Die Taten seien nicht aus »Bösartigkeit« oder Berechnung geschehen, sagt sie. Aber der Angeklagte hätte wissen müssen, dass für ihn als Polizisten erhöhte Anforderungen gelten würden. Mit seinem Leben als Polizist will der 45-Jährige abschließen. Er baut sich eine Existenz als Selbständiger auf und erzählt, offener mit seiner Erkrankung umzugehen. Er sagt: »Ich will das nicht noch mal durchmachen.«

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