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Plötzlich Oberbürgermeisterin

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Im Hintergrund die Paulskirche: Nargess Eskandari-Grünberg in ihrem Büro. © Red

Ab jetzt wird sich sehr viel ändern für Nargess Eskandari-Grünberg - und das weiß sie auch. Die 57 Jahre alte Politikerin der Grünen ist plötzlich Oberbürgermeisterin, zumindest kommissarisch. Weil der SPD-Mann Peter Feldmann abgewählt wurde und am Freitag vergangener Woche sein Büro räumen musste. .

Vielleicht ändert sich ja auch gar nicht so viel. Nargess Eskandari-Grünberg muss eben ein bisschen mehr repräsentieren, was eigentlich nicht ihr Ding ist, jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Und ein paar zusätzliche Gespräche mit den Bürgerinnen und Bürgern führen. Das ist auf jeden Fall ihr Ding. Und einige Magistratspapiere auf den Weg bringen. Da sei zuletzt einiges liegen geblieben. Aber hat sie das nicht alles auch schon getan, als sie »nur« Bürgermeisterin war? Doch, dennoch ist jetzt alles anders. Jetzt ist sie Oberbürgermeisterin, Als Bürgermeisterin übernimmt nun »NEG«, am Montag war ihr erster richtiger Arbeitstag. Sie behält den Job bis zur OB-Wahl am 5. März oder bis zum 26. März, wenn es eine Stichwahl geben sollte.

Wer mit Eskandari-Grünberg redet, der redet über ihre Fluchtgeschichte. Wie sie an Heiligabend 1985 in Frankfurt angekommen ist, ihre zwei Jahre alte Tochter auf dem Arm. Eskandari-Grünberg hat das oft erzählt. Nicht um im Mittelpunkt zu stehen, wie sie betont, schon gar nicht, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Sondern weil ihre Geschichte stellvertretend stehe für die Biografien vieler Menschen, die irgendwie nach Frankfurt kamen, um hier heimisch zu werden.

Im Gefängnis Tochter geboren

Über ihre Zeit im Iran ist weniger bekannt. Mit dem Regime konnte sie sich als junge Studentin nicht arrangieren. Sie wurde verhaftet, kam ins berüchtigte Evin-Gefängnis. Die Zeit muss der Horror gewesen sein. Im Gefängnis gab es Folter, Hinrichtungen. Eskandari-Grünberg geht selten ins Detail. Fest steht, dass ihre Tochter Maryam Zaree im Gefängnis auf die Welt kam. Die ist heute 39 Jahre alt und eine international renommierte Filmemacherin.

Die Bilder aus dem Iran, die sie in diesen Tagen fast jeden Abend in den Nachrichten sieht, machten sie betroffen, erschütterten sie, ließen sie fassungslos zurück, sagt Eskandari-Grünberg. Junge Menschen, die meisten von ihnen Frauen, die für ihre Freiheit protestierten und dafür gnadenlos verfolgt, verhaftet und im schlimmsten Fall hingerichtet würden. Die Geschehnisse lassen Eskandari-Grünberg oft an ihre eigene Geschichte denken.

Sie musste sich und ihre Tochter über Wasser halten. Sie studierte und machte abends und am Wochenende so ziemlich jeden schlecht bezahlten Job der Stadt. In den Kneipen, bei der Post.

Auch deshalb hat sie sich vor einiger Zeit mächtig über die FR geärgert, als es bei einem Vergleich zwischen möglichen OB-Kandidatinnen und -kandidaten der Grünen hieß, man könne sie sich schlecht bei Feiern der Feuerwehr vorstellen. »Was soll das? Ich habe keinerlei Berührungsängste mit Menschen«, sagt sie. Und dann erzählt Martin Müller, ihr Pressesprecher, von einem Termin am Flughafen, als alles gesagt war und eigentlich alle nach Hause wollten, aber die Bürgermeisterin wollte sich unbedingt noch mit den Jungs von der Flughafen-Feuerwehr unterhalten, 20 Minuten lang.

In Frankfurt findet Eskandari-Grünberg in den 80er und 90er Jahren auch eine politische Heimat. Bei den Grünen wird sie Stadtverordnete. Mittlerweile hat sie fertig studiert und als Psychotherapeutin eine Praxis eröffnet. Für die Grünen spricht sie über Integrationspolitik. Den Kontakt mit Menschen, die sagen, sie hätten Angst vor Überfremdung, sucht sie nicht. Sie geht ihm aber auch nicht aus dem Weg. 2007 kommt es in einer Ausschusssitzung zum Eklat. »Migration ist in Frankfurt eine Tatsache. Wenn Ihnen das nicht passt, müssen Sie woanders hinziehen«, sagt sie. Der Mob tobt und tut es bis heute, wenn der Satz wieder irgendwo auftaucht. Eskandari-Grünberg ärgert, dass dieses mittlerweile 15 Jahre alte Zitat oft aus dem Zusammenhang gerissen werde. Sie habe niemanden provoziert, im Gegenteil. Besucherinnen und Besucher der Sitzung hätten über Migranten gesagt, sie vermehrten sich »wie Kakerlaken«. In dieser Situation sei Schweigen keine Option. Damals nicht, heute nicht.

2008 wird sie Integrationsdezernentin. Sie macht den Job ehrenamtlich, und sie macht ihn gut. Eskandari-Grünberg gibt den Migrantinnen und Migranten in Frankfurt eine Stimme. Dennoch wird sie 2016 abgelöst. Das schmerzt, aber der Proporz nach der Kommunalwahl will es, dass das Amt an Sylvia Weber (SPD) geht. Die übt es zwar hauptamtlich aus, aber vor allem neben ihrer Tätigkeit als Bildungsdezernentin. Heute arbeitet Eskandari-Grünberg mit Weber eng zusammen. Das Verhältnis sei gut, sagt sie, aber die Jahre mit Weber als Integrationsdezernentin bezeichnet die Bürgermeisterin offen als verlorene Jahre für das Ressort.

Manuela Rottmann wird Kandidatin

Die Grünen stellen Eskandari-Grünberg 2018 bei der OB-Wahl auf. Sie holt gerade mal 9,3 Prozent. Die Grünen seien damals längst noch nicht so erfolgreich gewesen wie heute. Viele Kandidatinnen und Kandidaten hätten schlechter abgeschnitten als ihre jeweilige Partei bei der Kommunalwahl zwei Jahre zuvor. »Niemand hätte für die Grünen in dieser Situation mehr als zehn Prozent geholt«, sagt sie. Eskandari-Grünberg bleibt nach der Wahl ehrenamtliche Stadträtin. Doch ihr eigentliches politisches Comeback erlebt sie nach der Kommunalwahl 2021, die die Grünen gewinnen. Ihre Partei stellt sie als Bürgermeisterin auf und sie ist wieder Integrationsdezernentin. Wobei das Dezernat nun den Titel Diversitätsdezernat trägt. In Frankfurt gibt es nicht mehr die Mehrheitsgesellschaft, in die sich Migrantinnen und Migranten integrieren sollen. Frankfurt ist jetzt divers, und Eskandari-Grünberg füllt diesen Begriff politisch mit Leben. Und nun ist sie also Oberbürgermeisterin, muss noch mehr repräsentieren als früher. Doch das alleine möchte sie nicht, sie möchte nicht einfach Menschen begrüßen, sondern mit ihnen intensiv ins Gespräch kommen, sagt sie. Mit ihnen zusammen Ideen entwickeln.

Und die OB-Wahl am 5. März 2023? Die Bundestagsabgeordnete Manuela Rottmann, die zudem Staatssekretärin im Bundeslandwirtschaftsministerium ist, soll für die Grünen antreten. Das schlägt zumindest die siebenköpfige, von der Basis eingesetzte Findungskommission vor, die mit sechs Kandidatinnen und Kandidaten gesprochen hatte.

Ihr Büro wird die Bürgermeisterin zumindest in den kommenden Monaten behalten. Es ist ohnehin schöner als das OB-Büro. Viel heller und der Blick auf die Paulskirche ist noch besser. Die Paulskirche, die Wiege der Demokratie, sagt sie, das sei es, was sie auch heute antreibe. 37 Jahre nach ihrer Ankunft in Frankfurt. Als sie plötzlich die Oberbürgermeisterin ist.

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