Oper "Vasco da Gama" in Frankfurt: Eroberer im Weltraum
Regisseur Tobias Kratzer wagt in Frankfurt viel. Er schießt die romantische Oper »Vasco da Gama« von Giacomo Meyerbeer ins All. Es gelingt ihm ein Meisterwerk. Das Publikum buht empört.
Der Weltraum. Unendliche Weiten. Mittendrin: Entdecker Vasco da Gama, dessen Seefahrersehnsucht nach der Ferne unstillbar scheint. In Frankfurt sucht der Portugiese, dem Komponist Giacomo Meyerbeer mit seiner Grand opéra »L’Africaine – Vasco da Gama« ein Denkmal gesetzt hat, im Universum sein Glück. Das Segelschiff, das im dritten Akt Richtung Indien schippert, ist ein Raumschiff, bleibt aber immer noch ein Schiff. Die Matrosen sind Astronauten, die im Raumanzug durchs All schweben. Und die Fremden aus unbekannten Ländern kommen als Außerirdische von ganz weit her. Das Libretto des Dramatikers Eugène Scribe verkraftet diesen Coup problemlos. Das konservative Frankfurter Publikum nicht. Am Ende der Premiere vom Sonntagabend hagelt es im nahezu voll besetzen Großen Haus massive Buhs für die Inszenierung von Tobias Kratzer. Dabei gehört seine erste Regiearbeit für die Oper in der Mainmetropole zum Stimmigsten, was dort in jüngster Vergangenheit zu erleben war.
Dass Kratzer aus der titelgebenden »Afrikanerin« Selika und ihrem Diener Nelusko blaugraue Aliens nach Art der X-Men-Mutanten macht, ist in seiner Lesart des historischen Stoffs konsequent. Alle Aspekte rund ums Thema Kolonialismus, samt Religionskritik, Liebesschwüren und Sehnsuchtsfan-tasien, lassen sich ohne Weiteres in diese Science-Fiction-Welt mit ihren »Voyager«- und »Star Wars«-Vorspännen beamen. Die fünf Akte zeigen fünf Breitwandfilm-Bühnenbilder, in denen Ausstatter Rainer Sellmaier oft mit Stanley-Kubrick-Kühle Stimmungen generiert.
Optische Finessen
Und auch der Originalinhalt korrespondiert mit dem Weltall: Nachdem sein Versuch, das Kap der Guten Hoffnung zu umsegeln, gescheitert ist, wird Vasco da Gama eine weitere Reise versagt, obwohl er mit Selika und Nelusko, zwei auf dem Sklavenmarkt gekauften Fremden, kundige Führer vorweisen kann. Wegen Gotteslästerung landet Vasco im Kerker. Ines, seine große Liebe, kann ihn nur befreien, indem sie sich auf die Heirat mit seinem Konkurrenten Don Pedro einlässt. Als der zu einer Expedition aufbricht, folgt Vasco ihm mit einem eigenen Schiff. Kurz vor dem Ziel werden die Eroberer von den Fremden dahingemetzelt. Selika gibt als Königin ihres Volkes Vasco als ihren Gatten aus und rettet ihn. Als sie spürt, dass er Ines mehr liebt als sie, ermöglicht sie beiden die Flucht.
Bei Kratzer kapern die Außerirdischen im All das Schiff und töten seine Besatzung. Im vierten Akt, auf dem Planeten der Bläulinge, müssen bunte Rabatte und Plexiglaswände genügen, um das Extraterrestrische zu zeichnen. Und im Schlussbild ist Geduld gefragt. Mediziner wissen es ja: Es stirbt sich nicht so leicht. In der Oper können sie ein Lied davon singen. Wenn Selika in einem fast halbstündigen Monolog unter dem giftigen Manzanillobaum halluzinierend den Freitod wählt, hat das trotz optischer Finessen Längen.
Futuristisch, stringent und visuell betörend
Musikalisch zieht Meyerbeer alle Register seines Könnens. Antonello Manacorda lässt im Graben das Frankfurter Opern- und Museumsorchester feinnervig aufspielen, dreht die Lautstärke trotz großer Besetzung (vierzehn erste Geigen, sechs Bässe) nie zu laut. Er gewährt den Sängern Raum. Der ausgereifte Mezzosopran von Claudia Mahnke als Alienkönigin Selika strahlt in allen Lagen. Sie lässt Tenor Michael Spyres bei seinem Frankfurt-Debüt in der Titelpartie wenig Chancen, obschon seine Paradies-Arie aller Ehren wert ist. Sopranistin Kirsten MacKinnon will anfangs zu viel, fängt sich aber im Lauf des Stücks. Der Bass von Andreas Bauer als Don Pedro verfügt über eine grandiose dunkle Färbung, der Bariton Brian Mulligan als glänzender Nelusko trotzt. Der Chor der Oper singt blitzsauber. Lautstarker Applaus für alle Sänger. Regisseur Kratzer ist ein futuristischer Meyerbeer gelungen, der inhaltlich stringent und visuell betörend in Bann zieht. Ein Meisterwerk.
Info
Erfinder der Grand opéra
Giacomo Meyerbeer gehörte in den 1830er Jahren in Paris zu den Erfindern der Grand opéra, der Großen Oper, was allein schon die Spieldauer von vier Stunden belegt – virtuose Arien, prachtvolle Chor-Tableaus und epische Dimensionen inklusive. In Frankfurt ist die rekonstruierte Originalfassung von Meyerbeers »Vasco da Gama« zu sehen, die 2013 in Chemnitz erstaufgeführt wurde – nun leicht gekürzt und mit Zierrat für die Inszenierung am Main aufgepeppt. Die Uraufführung der nach dem Tod des Komponisten bearbeiteten Fassung in Paris mit dem Titel »L’Africaine« datiert auf das Jahr 1865.