»Man muss sich wehren können«

Frankfurt - Die Alten vom Volkssturm kamen in den letzten Tagen des Krieges. Sie befahlen allen Jugendlichen, sich auf einer Wiese zu versammeln. »Sie wollten uns beibringen, wie man mit Panzerfäusten schießt«, erinnert sich Eva Renée Nele Bode-Riehle.
Damals, im Frühjahr 1945, war sie gerade dreizehn Jahre alt geworden. »Es war absurd.« Es kam nicht mehr zum Kampf, sie überlebte. Heute wird die Bildhauerin E. R. Nele von solchen Erinnerungen wieder eingeholt. Die 90 Jahre alte Künstlerin, die ihr Leben lang für Frieden und Verständigung gearbeitet hat, muss erleben, dass erneut ein blutiger Krieg im Osten Europas tobt, wieder in der Ukraine, die seinerzeit von der deutschen Wehrmacht verwüstet wurde, heute von russischen Truppen.
Die permanente Grundangst
»Kiew: Das Wort habe ich als Kind ständig im Radio gehört.« Der kleinen Frau mit den feuerroten Haaren sind die Gefühle von damals immer noch präsent. »Die permanente Grundangst.« Angst, »dass man den Vater niemals wiedersieht«. Angst, »dass man verhungert«, weil man aus dem Keller bei den ständigen Bombenangriffen nicht mehr herauskommt. Angst vor den Tieffliegern: »Wir haben uns immer vor den Geschossen in den Graben geschmissen.« Natürlich spiegelt sich die Gegenwart in ihrer künstlerischen Arbeit. Gerade hat sie eine neue, große Edelstahl-Skulptur vollendet, die in einem Wald bei Kassel aufgebaut wird. »Der letzte Gang«: Ein Mann wechselt über einen schmalen Grat von einem Haus ins andere.
Nach ihrem 90. Geburtstag im Frühjahr arbeitet die Metallbildhauerin, Goldschmiedin, Schmuckkünstlerin, Grafikerin und Designerin einfach weiter. Für sie nicht der Rede wert. »Warum soll ich mich verändern?«, fragt sie schulterzuckend, lächelnd. »Es macht mir Freude, zu arbeiten, das ist ein Teil von mir.« Stahl ist ihr Werkstoff. Stein mag sie nicht: »In der Materie lange herumklopfen? Meine Mentalität ist nicht so.« Auch Holz ist »nicht ihr Ding«. Nein, sie will rasch das Ergebnis ihrer Arbeit sehen, rasch auf den Punkt kommen, so, wie sie auch spricht. Direkt und unverblümt.
Ihre Wohnung, ihr Garten im südlichen Frankfurt sind ein einzigartiges Zeugnis ihrer Kunst. Ein Gang vorbei an großen und kleinen Skulpturen, Mobiles, Möbeln. Als Kind nähte sie Puppen aus Stofffetzen, baute ihnen ein Haus aus Papier. »Wir waren ausgebombt, wir hatten nichts.« Auf den Feldern am Rande der brutal zerstörten Stadt Kassel sammelte sie Kartoffeln, damit es etwas zu essen gab. Stundenlang stand sie an der Landstraße, beobachtete den endlosen Strom von Geflüchteten, Heimkehrenden, zerlumpten Soldaten. Wartete auf ihren Vater. Und eines Tages kam er, »zu Fuß vom Chiemsee, in seiner Uniform, zog einen Kinderwagen hinter sich her mit Gepäck«.
Trampelpfade durch die Trümmer
Der Vater, der Maler und Dozent Arnold Bode, wollte in Kassel nach Kriegsende eine Kunstakademie gründen, er kämpfte dafür, dass die Schulen rasch wieder geöffnet wurden, trotz der Verwüstung überall: »Es gab noch jahrelang nur so Trampelpfade durch die Trümmer.« Der Vater verfolgte mit Gleichgesinnten eine verrückte Idee: Eine große Ausstellung zeitgenössischer Kunst sollte organisiert werden, eine Schau mit Weltgeltung, und zwar in Kassel. 1955 war es so weit: In Kassel eröffnete die Documenta I. Am 18. Juni wird Nele gemeinsam mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kassel am Eröffnungsrundgang der Documenta Fifteen teilnehmen.
Die Kunstschau ist in den zurückliegenden Monaten durch Enthüllungen über Werner Haftmann stark belastet worden, der 1955 Berater und Helfer Arnold Bodes bei der Documenta war. Recherchen des Historikers Carlo Gentile ergaben, dass Haftmann noch 1944 als Offizier der deutschen Wehrmacht in Italien Partisanen gejagt hatte und womöglich auch an Folterungen beteiligt war. Nele hat Haftmann als junge Frau in Venedig getroffen. »Niemand wusste das«, sagt sie heute über die Nazi-Vergangenheit des Kunst-Kurators. »Er war oft volltrunken«, das steht ihr noch vor Augen. Aber auch dann habe er nicht über seine Zeit in Italien gesprochen.
Die Bildhauerin verteidigt ihren Vater. Er sei »durch und durch Antifaschist« gewesen. Die Behauptung, Bode habe Fenster für das Reichsluftfahrtministerium in Berlin geschaffen: »Gelogen!« Und dann der Vorwurf, in der ersten Documenta 1955 seien kaum verfolgte, jüdische Künstler vertreten gewesen. Ihre Erklärung: »Es war sehr schwierig, jüdische Künstler ausfindig zu machen, mein Vater hat es versucht.« Nele schweigt, nippt an ihrem Espresso. »Ich leide darunter«, gibt sie dann zu. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, sie holt die Menschen immer wieder ein. Ihr Leben lang hat Nele sich künstlerisch mit dem Holocaust und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auseinandergesetzt. Eine ihrer wichtigsten Arbeiten ist »Die Rampe« auf dem Gelände der Universität Kassel: Leere Mäntel entsteigen einem Eisenbahnwaggon, ein eindrückliches Mahnmal für die Opfer des Holocaust. Als Kind sah sie jeden Tag die Zwangsarbeiter an ihrer Wohnung vorbei zur Fabrik schlurfen. »Meine Mutter hat ihnen Essen zugesteckt.« Bald bedankten sich die Gefangenen mit kleinen Holzfiguren, die sie heimlich geschnitzt hatten. Später inspirierten diese winzigen Skulpturen die Bildhauerin zu eigenen Arbeiten. Zweimal, 1959 und 1964, nahm sie selbst an der Documenta teil, die ihr Vater gegründet hatte. Ihre Kunstwerke sind in Museen wie im öffentlichen Raum präsent, in Frankfurt etwa die »Windsbraut« auf dem Dalbergplatz in Höchst.
Zweimal bei Documenta dabei
Sie hat sich stets als politische Künstlerin verstanden, von politischen Bewegungen und Parteien aber ferngehalten. An der 68er-Revolte nahm sie nicht teil. »Ich hatte keine Zeit dazu, ich hatte zwei Jungen großzuziehen«, so ihr knapper Kommentar. »Die Trennlinie« zwischen Männern und Frauen kann sie »nicht leiden«. Auf der Biennale in Venedig, von der sie gerade zurückkehrte, stammten nach ihrer Beobachtung 70 Prozent der Arbeiten von Frauen. »Das ist der falsche Weg, mir wäre lieber, es wären 70 Prozent gute Künstler gewesen.« Heute aber müssten »die Männer darum kämpfen, dass sie nicht ausgeblendet werden«.
Der Frauenkopf von Picasso im Flur, ein Original, hängt minimal schief. Wird sofort korrigiert. Bevor der Fotograf einzelne Skulpturen im Garten festhält, muss der Staub weggefegt werden. Alles für die Kunst. Da liegt, zusammengekrümmt am Boden, eine geschundene Kreatur. »Das Hiroshima-Pferd«. Brandbilder, rot übermalt, versuchen, den Holocaust sichtbar zu machen.
Die Vergangenheit ist nicht vergangen, sie holt uns immer wieder ein. In den letzten Wochen musste die Künstlerin erleben, dass sich die deutsche Politik für Waffenlieferungen an die Kriegspartei Ukraine entschied. »Das war für mich ein riesiges Problem.« Nele hält inne. Zögert. Sagt dann: »Man muss sich wehren können, das ist ein grundmenschliches Bedürfnis.«
Wenn sie ans Werk geht, entstehen zunächst Modelle, im Maßstab 1:10. Es gibt keine Notizen. »Das ist alles in meinem Kopf.« Vor fünf Jahren hat Nele sich tatsächlich an den Schreibtisch gesetzt und ihre Memoiren aufgeschrieben. »Alles abgeschlossen.« Aber nicht veröffentlicht. Und warum nicht? Nur eine abwehrende Handbewegung als Antwort. Claus-Jürgen Göpfert