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Lebensmittelverschwendung: So wirkt sie sich auf Menschen in ärmeren Ländern aus

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Von: Rüdiger Geis

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© dpa/Symbolbild

Was nicht gebraucht wird, landet auf dem Müll. Besonders bitter erscheint die Lebensmittelverschwendung angesichts des Hungers in der Welt. Doch was sagen Experten?

Zu viel eingekauft, zu üppig bestellt – viele Lebensmittel landen auf dem Müll. Warum werfen wir so viel Essbares weg, und wie können wir das ändern? Fragen an Prof. Rainer Kühl, Agrarwissenschaftler am Institut für Betriebslehre der Agrar- und Ernährungswirtschaft der Universität Gießen.

Pro Jahr werden laut einer WWF-Studie 18 Millionen Tonnen Lebensmittel in Deutschland auf den Müll geworfen. Spiegelbild einer verantwortungslosen Gesellschaft oder unvermeidbare Begleiterscheinung des Wohlstands?

Prof. Rainer Kühl: Laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft entstehen jährlich etwa elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfall. Je nach Intention von Auftraggebern und Erfassungsmethode fallen die Ergebnisse also unterschiedlich aus. Fakt ist: In Industrieländern werden am meisten Lebensmittel weggeworfen, insbesondere vom Handel und vom Endverbraucher. Daneben gilt auch, dass Lebensmittel in Deutschland im EU-Vergleich eher günstig sind. Zudem sind wir als Verbraucher daran gewöhnt, zu jeder Tageszeit volle Regale vorzufinden. Initiativen wie Foodsharing oder die »Zu gut für die Tonne!« zeigen aber, dass das Thema in das Bewusstsein der Bevölkerung gerückt ist.

Ist das auch ein europäisches Problem? Wie sieht es in anderen Ländern mit der Lebensmittelverschwendung aus?

Kühl: In vielen Ländern folgen die Lebensmittelproduktion und das Konsumentenverhalten ähnlichen Mustern einer arbeitsteiligen und spezialisierten Wertschöpfungskette mit dem Ziel, Lebensmittel in einer ausreichenden Menge und Qualität zu günstigen Preisen anzubieten. Lebensmittelverschwendung ist auch in anderen Ländern der EU ein Thema, für das in der Bevölkerung ein Bewusstsein geschaffen wird. In der EU wird der jährlich anfallende Lebensmittelabfall auf 89 Millionen Tonnen geschätzt und mit finanziellen Verlusten in Höhe von 143 Milliarden Euro beziffert. In Frankreich hat die Politik Supermärkte dazu verpflichtet, unverkaufte Lebensmittel an die Tafeln zu spenden. In anderen Ländern, wie beispielsweise Großbritannien, haben freiwillige Maßnahmen zu einer Reduktion geführt.

Werden Lebensmittel zu wenig wertgeschätzt?

Kühl: Ein Blick in Nachbars Garten zeigt uns mitunter deutlich, dass Lebensmittel verschwendet werden. Obst wird nicht gepflückt; Streuobstflächen in Hessen suchen nach Pflegepatenschaften, um nur einige Beobachtungen zu nennen. Haushalte stellen ebenso wie Unternehmen eine produzierende und ökonomische Einheit dar. Auch sie machen die Rechnung auf, ob unter gegebenem zeitlichem und finanziellem Aufwand der Eigenproduktion ein Zukauf ökonomisch sinnvoller ist, eine Verschwendung in Kauf zu nehmen und die Äpfel am Baum hängen zu lassen. In diesem Sinne führt die Kosten-Nutzen-Abwägung zum Kauf kostengünstiger Lebensmittel und damit auch – bezogen auf das Beispiel – zu einer Geringschätzung von Lebensmitteln.

Fest steht, dass in Deutschland Lebensmittel gemessen an den übrigen Lebenshaltungskosten vergleichsweise günstig sind.

Prof. Rainer Kühl, Universität Gießen

Sind Essen und Trinken bei uns zu billig?

Kühl: Fest steht, dass in Deutschland Lebensmittel gemessen an den übrigen Lebenshaltungskosten vergleichsweise günstig sind. Sie machen etwa zehn Prozent der monatlichen Haushaltsausgaben aus. Würden höhere Preise verlangt, so würden Verbraucher sicher insgesamt weniger kaufen. Doch die Preise sind das Ergebnis von Angebot und Nachfrage.

Was sind die Hauptgründe in Deutschland dafür, dass Lebensmittel auf dem Müll landen?

Kühl: Die Ursachen dafür, dass Lebensmittelabfälle entstehen sind sehr komplex und vielfältig. Auf der Seite der Verbraucher wird am häufigsten die Haltbarkeit als Grund genannt: Lebensmittel sind verdorben, sehen unappetitlich aus oder haben ihr Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten. Außerdem wurde zu viel gekocht oder zu viel eingekauft, zum Beispiel Sonderangebote. Nur selten werden Produkte weggeworfen, weil sie nicht schmecken. Im Handel sind es unterbrochene Kühlketten oder zu hohe Ansprüche an Qualität und Frische, in Großverbrauchereinrichtungen sind nicht bedarfsgerechter Einkauf und Speiseplanung, fehlende Prognosegenauigkeit bei der Planung der erwartenden Gästezahl, in der Lebensmittelindustrie sicherheitsorientierte knappe Festlegung des Mindesthaltbarkeitsdatums, technische Störungen etc. nur einige wenige Gründe, die Lebensmittelabfälle verursachen können.

Wer sind die Hauptverursacher dieses Mülls? Verbraucher, Produzenten?

Kühl: Auf jeder Stufe der Wertschöpfung finden sich Verursacher. Vermeidbare Lebensmittelabfälle werden in Privathaushalten als frische oder bereits zubereitete Mahlzeiten entsorgt. Zu beobachten ist: Je jünger der Haushaltsvorstand, desto mehr Abfall wird produziert. Haushalte mit älteren Personen werfen tendenziell weniger weg. Konsumenten zwingen durch ihr kaum zu kalkulierendes Einkaufs- und Konsumverhalten Bäcker, Metzger und den Lebensmittelhandel zu längeren Öffnungszeiten, jederzeit vollen Regalen bis zum Ladenschluss und ihrem Verständnis von Frische, zu einem jederzeit großen Angebot.

Wie sieht es auf der Produzentenseite aus?

Kühl: Eingebunden in dieses Vorhalten eines Angebots sind auch die Lebensmittelindustrie und nicht zu vergessen auch die Lebensmittelangebote in dem wachsenden Segment der Außerhausverpflegung in Kantinen und Gastronomie oder das morgendliche Frühstückbuffet in Hotels. Auch die landwirtschaftliche Primärproduktion ist nicht davon auszunehmen, wenn es zum Beispiel darum geht, Lagerungs- und Transportverluste zu vermeiden und die Produkt- und Qualitätsstandards zu erfüllen. Eine Zuweisung eines mengen- oder wertmäßigen Anteils auf die einzelnen genannten Akteure fällt schwer und ist auch nicht unbedingt zielführend. In jedem Handlungsfeld ist dem Lebensmittel mehr Wertschätzung entgegenzubringen.

Welche Lebensmittel landen vor allem auf dem Müll?

Kühl: Lebensmittelabfälle entstehen an verschiedenen Stellen der Lebensmittelproduktion. Lebensmittelabfall ist zu differenzieren erstens in den, der vermeidbar ist, wie voll essbare Bestandteile. Zweitens den, der teilweise vermeidbar ist, aber anfällt aufgrund von Essgewohnheiten oder gesetzlichen und hygienischen Regelungen, wie Brotkruste, Apfelschalen, Essensreste in Kantinen oder Restaurants. Und drittens der nicht vermeidbare Lebensmittelabfall, der bei der Zubereitung anfällt: Schälabfälle, Knochen, Schalen. Lebensmittel landen auch auf dem Müll, weil ursprünglich alternative Verwendungen zum Beispiel in der Schweinefütterung politisch und gesellschaftlich nach der BSE-Krise nicht mehr gewünscht wurden. Beim Verbraucher landen am häufigsten Obst und Gemüse im Müll. Aber auch Brot und Backwaren sind oft betroffen.

Nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums ist ein Lebensmittel nicht automatisch ungenießbar.

Prof. Rainer Kühl, Universität Gießen

Wie kann man sich als Verbraucher verhalten bzw. was kann man als Verbraucher tun, um Verschwendung zu vermeiden oder zu reduzieren?

Kühl: Die Haltbarkeit von Lebensmitteln kann durch bessere Planung und Lagerung erhöht werden. Nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums ist ein Lebensmittel nicht automatisch ungenießbar. Daneben könnten bewusst weniger Lebensmittel gekauft und zubereitet werden. Reste können zudem weiterverarbeitet werden. Haushalte könnten ihren Anspruch an Frische von Obst, Gemüse, Brot und Backwaren überdenken oder Lagerbedingungen im Haushalt überprüfen. Eigentlich sind es doch einfachste Dinge, die es bezüglich einer Verschwendung zu beherzigen gilt. Eine bewusstere Wahrnehmung und Sensibilisierung der Verbraucher für Lebensmittel und die dahinterstehenden Produktionsprozesse von der Landwirtschaft bis zu Einzelhandel und Gastronomie könnten zu einer gesteigerten Wertschätzung führen.

Was müssen Produzenten, Lebensmittelindustrie, Gastronomie tun, um den Lebensmittelmüll zu reduzieren?

Kühl: Die größten Verluste fallen hierzulande im Handel und beim Endverbraucher an. Der Handel kann seinen Teil zur Verringerung der Verluste beitragen, indem er Produkte auszeichnet, die sich kurz vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums befinden. Die Gastronomie kann durch das Einpacken von Essensresten und durch die Teilnahme bei der »Rettung« von Lebensmitteln – zum Beispiel Foodsharing – beitragen.

Wie wirkt sich unsere Verschwendung auf Menschen in ärmeren Ländern aus, die ums tägliche Brot kämpfen müssen?

Kühl: Die Diskussion um die Bedeutung von Lebensmittelverschwendung impliziert automatisch, dass unsere ungenutzten Lebensmittel direkt oder indirekt für die Bekämpfung des Hungers in der Welt verfügbar seien. Damit wird unterstellt, dass eine Tonne weniger Lebensmittelabfall auf der einen Seite einen Mehrkonsum von einer Tonne anderswo bewirken könnte. Menschen in den ärmeren Ländern leiden unter Mangelernährung, weil sie entweder nicht genügend Nahrungsmittel in ausreichender Menge oder Qualität produzieren oder ihre Kaufkraft für ausreichende Nahrungsmittelkäufe nicht ausreicht.

Bewirkt also eine Verhaltensänderung unsererseits trotzdem keine positive Wirkung für die Hungernden?

Kühl: Eine Reduzierung des Verschwendungsgrades in den reichen Ländern wird diese beiden Defizite nicht beseitigen. Was man bestenfalls erwarten könnte wäre, dass bei weniger Verschwendung einige Weltmarktpreise sinken könnten und damit die Kaufkraft eines Teils der hungernden Bevölkerung in ärmeren Ländern steigen könnte. Zum anderen ist unsere Abfallreduktion nicht kostenlos dorthin zu transportieren, wo sie möglicherweise benötigt wird. Ein Lebensmitteltransfer überschüssiger Lebensmittel kann in Krisenzeiten in ärmeren Ländern helfen, langfristig ist allerdings für eine Steigerung der dortigen Produktivität zu sorgen. Die Ressourcen der Erde sind begrenzt und die Weltbevölkerung wächst. Die Reduzierung der Verluste kann dabei nur ein erster Schritt zur Vermeidung von Hunger in der Welt sein.

Haben wir eine ethische Verpflichtung zur Vermeidung von Lebensmittelabfall?

Kühl: Unabhängig davon, an welcher Stelle der Wertschöpfungskette und in welchem Ausmaß Lebensmittelabfälle anfallen, ist zu beachten, dass Verschwendung sowohl aus ethischer, ökologischer und ökonomischer Sicht nicht akzeptabel ist. Alle Akteure sind aufgerufen, egal welche Sichtweise dominiert, einer Verschwendung von Lebensmitteln zu begegnen. Denn der Lebensmittelabfall trägt auch zum Klimawandel bei. Für jedes Kilogramm produzierter Nahrungsmittel entsteht CO2. Und für jedes Kilogramm produzierter Nahrungsmittel wird Wasser benötigt. (Fotos: dpa/privat)

Info

Hessen im Mittelfeld

(rüg). In seiner jüngsten Studie vom April dieses Jahres beziffert der World Wildlife Found (WWF) die jährliche Lebensmittelverschwendung auf 18 Millionen Tonnen. Das Bundeslandwirtschaftsministerium spricht auf Basis einer Studie der Universität Stuttgart von elf Millionen Tonnen. In den Bundesländern ist der Kampf gegen die Verschwendung unterschiedlich. Zu den Pionieren der Abfallvermeidung gehören laut WWF Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden Württemberg, Bayern und Sachsen. »Nachzügler« sind Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. Hessen nimmt zusammen mit Schleswig-Holstein, Berlin, Brandenburg und dem Saarland einen Mittelfeldplatz ein. Hessen beteiligt sich mit acht Projekten an der Internet-Plattform des Bundeslandwirtschaftsministeriums (www.lebensmittelwertschaetzen.de), auf der zahlreiche Informationen abrufbar sind, wie man Lebensmittelverschwendung vermeiden kann. Eines dieser hessischen Projekte ist die »Werkstatt Ernährung« des Umweltministeriums. Es richtet sich primär an Kinder und Jugendliche der fünften und sechsten Klassen, ist aber auch für höhere Stufen interessant. Die Kinder sollen damit den richtigen Umgang mit Lebensmitteln lernen: Einkauf planen, Kühlschrank sinnvoll einräumen, Lebensmittel richtig aufbewahren und verarbeiten und Reste verwerten.

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