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Langer Weg zur Aufklärung

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»Say their names«: Immer wieder weisen die Angehörigen der Mordopfer auf das Schicksal ihrer Kinder, Geschwister, Partner und Freunde hin. Vor einem Jahr hat sich der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Attentat konstituiert, im Dezember fand die erste öffentliche Sitzung statt. © DPA Deutsche Presseagentur

Seit einem Jahr wird im Untersuchungsausschuss das rassistisch motivierte Attentat in Hanau mit neun Toten untersucht, um Antworten auf offene Fragen zu finden. Die Bilanz fällt bisher durchwachsen aus.

Der Attentäter »hat nicht nur unser Kind ermordet, sondern auch uns. Wir sind wie lebendige Leichen«, sagte Emis Gürbüz, Sedats Mutter. »Ich hätte mir gewünscht, dass jemand von der Polizei, von den Behörden uns den Weg weist, uns informiert. Du kämpfst mit deiner Psyche, und gleichzeitig musst du alles organisieren«, erklärte Hayrettin Saraçoglu, Fatihs Bruder. Er habe all seine Kraft verloren. Said Etris Hashemi, der den Anschlag überlebte und sah, wie sein Bruder Said Nesar erschossen wurde, betonte: Mehrere Opfer in der Arena-Bar hätten sich gerettet, wenn sie zum Notausgang hätten rennen können. Dieser aber sei immer zu gewesen. Ferhat Unvars Mutter Serpil beklagte: »Warum durfte ich mich nicht von ihm verabschieden? Wer hat das entschieden?« Und Çetin Gültekin, Gökhans Bruder, kritisierte: »Wir sind wie rechtlose Objekte behandelt worden.«

Betroffene

zuerst gehört

Die eindringlichen Aussagen der Angehörigen und Überlebenden im Untersuchungsausschuss zeugen von den gravierenden Folgen des Terrors von Hanau. Es ist ein bleibendes Verdienst des Ausschusses und nicht zuletzt des Vorsitzenden Marius Weiß (SPD), dass er sie als Erste hörte, nachdem CDU und Grüne anfangs erwogen hatten, zunächst einen Polizei-Sachverständigen zu befragen. Dass die Betroffenen ihre Erfahrungen detailliert schildern konnten, war ein wichtiges gesellschaftspolitisches Signal. Gleichzeitig lieferten die Angaben Erkenntnisse zu Versäumnissen und Fehlern vor und nach der Tat, auch im Umgang mit den Hinterbliebenen, die fast eine Woche lang nicht wussten, wo die Leichname ihrer Lieben waren.

Doch schon in den ersten Sitzungen deutete sich an, wie stark Parteipolitik solche Ausschüsse prägt. Der Kampf um Deutungshoheit gehört dazu. Manche Ausschussmitglieder zeigten kein großes Interesse an den Aussagen der Opferangehörigen, fragten wenig. Welche Rolle die Parteizugehörigkeit spielen kann, lässt sich etwa an CDU-Obmann Jörg Michael Müller beobachten. Kürzlich berichtete Marc Blume, einst Leiter der Polizeistation Hanau I, recht offen von der Personalnot dort, von den fast 20 Jahre lang bestehenden Problemen mit dem veralteten Notruf, den Warnungen vor möglichen fatalen Folgen und den vergeblichen Versuchen, bei den Verantwortlichen auf Veränderungen hinzuwirken. Der Vertreter der seit Langem für Innenministerium und Polizei zuständigen CDU ging auch in seiner Presseerklärung nicht darauf ein, sondern hob hervor, die Polizei sei laut Blume und Staatsanwalt Martin Links sehr schnell an den Tatorten gewesen. Und auch weitere entgegengenommene Notrufe hätten die Morde nicht verhindern können.

Missstände bei der Hanauer Polizei

Es ist selbstverständlich wichtig, Aussagen, die in der Kritik stehende Beteiligte entlasten, zu würdigen. Aber abgesehen davon, dass zum zweiten Tatort Fragen offen sind: Der häufige Einwand, der Attentäter hätte im Vorfeld nicht richtig eingeschätzt oder gestoppt werden können, erstickt im Prinzip jede tiefere Auseinandersetzung und verstellt den Blick auf das Wesentliche. Denn es geht vor allem darum, welche Umstände in hessischen Behörden und welches Handeln oder Nichthandeln dazu beigetragen haben, dass so etwas geschehen konnte. Und was jetzt zu tun ist, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass ein solcher Anschlag erneut geschieht und Angehörige missachtet werden.

Für eine abschließende Bewertung des Ausschusses ist es zu früh, viele Sitzungen stehen noch an. Einige Aspekte hat das Gremium öffentlich gemacht: Zum Beispiel, dass der Terrorist in Bayern einer Sexarbeiterin Todesangst bereitet haben soll. Die Staatsanwaltschaft hat den Fall neu aufgerollt. Der psychiatrische Sachverständige Henning Saß - der zuvor im Auftrag des Generalbundesanwalts (GBA) tätig war und daher Akteneinsicht hatte - stellte im Ausschuss dar, dass der Mörder »rassistisch und schizophren« gewesen und wiederholt auffällig geworden sei. Dass die Wahnstörung in Anzeigen, die der Hanauer 2019 an Staatsanwaltschaft und GBA geschickt hatte, klar zu erkennen gewesen und die Krankheit mit höherem Risiko für Gefährlichkeit verbunden sei.

Mehr Informationen notwendig

Der Erste Polizeihauptkommissar Blume bestätigte die personellen und technischen Missstände bei der Hanauer Polizei, die dazu führten, dass nur wenige Notrufe angenommen wurden. Darüber hinaus ist unter anderem unklar, welche Informationen zu welchem Zeitpunkt in der Tatnacht vorlagen. War das Krisenmanagement tatsächlich einwandfrei? Warum wurde der zweite Tatort so dilettantisch untersucht? Was sollte bei künftigen Einsätzen verbessert werden? Einige Lücken in der Aufklärung hätten bereits geschlossen werden können, wenn der Ausschuss seine weitreichenden Möglichkeiten - so müssen Zeugen umfassend aussagen, sofern etwa kein Verfahren gegen sie läuft - richtig genutzt hätte. Zum Teil wurde bei Befragungen nicht nachgehakt. Zudem war der Umgang mit den Sachverständigen, die als Informationsgrundlage nur Pressemitteilungen der Staatsanwaltschaft erhielten, kritikwürdig. Sie konnten sich zumeist nur sehr allgemein äußern.

Weiß widersprach der Kritik: Die Experten hätten keine komplette Einsicht in die Akten erhalten können - wegen der Fülle der Dokumente, die nicht dem Ausschuss gehörten, sowie aufgrund von Geheimhaltungsstufen. Auch sollten sie zunächst grundlegende theoretische Aussagen treffen.

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