Jeden Tag neu gestalten

Die Corona-Krise sorgt dafür, dass unser Alltag komplett auf den Kopf gestellt wird. Klar, dass das nicht ohne Folgen bleibt. Doch was genau passiert da mit uns? Warum sind wir angespannt, reizbar und schlecht gelaunt? Was können wir tun, damit es uns besser geht? Christine Backhaus, Diplom- Psychologin und Coach aus Frankfurt, gibt Tipps.
Christine Backhaus hat gerade am eigenen Leib erfahren, was es heißt, isoliert zu sein. Sie hatte zwar nicht Corona, war aber dennoch schwer krank, lag einige Tage in einem Krankenhaus in Indonesien auf der Isolierstation, Freunde und Verwandte weit weg. Ihre einzige Verbindung zu ihnen war das Smartphone. Erst am Tag vor unserem Gespräch ist sie nach Frankfurt zurückgekehrt, wo sie das Coaching-Center Psyconomy leitet. Umso besser kann Backhaus nachvollziehen, was Isolation bedeutet, wie wir sie gerade erleben. Auch wenn es für die meisten von uns nicht so dramatisch ist wie für Backhaus in Indonesien - die sozialen Kontakte fehlen in einer Zeit, in der man nur alleine oder mit der engsten Familie vor die Türe gehen darf. Was bedeutet das für uns? Und was hilft gegen Frust, Unsicherheit und Angst?
Frau Backhaus, was macht es mit uns, wochenlang auf direkte soziale Kontakte zu verzichten?
Jeder Mensch reagiert unterschiedlich. Aber insgesamt kann man davon ausgehen, dass das eine sehr stressige Situation ist. Gerade am Anfang herrschte viel Verunsicherung. Die Fragen, die ganz früh aufkamen - und die dann nicht nur Stress machten, sondern auch Angst - waren: Wie geht es beruflich weiter, wie privat? Wie lange habe ich die Kinder zu Hause? Was kommt noch? Wann ist es vorbei? Also tausend Fragen, auf die immer nur stückchenweise Antworten gegeben werden können. Dass es auf eine Frage keine konkrete Antwort gibt, das muss man erst einmal aushalten.
Wir waren ja alle eingerichtet in unseren Ritualen und Rhythmen, haben unseren Alltag gemeistert. Jetzt ist unsere ganze Struktur massiv irritiert. Die Situation ist mit einem wahnsinnigen Kontrollverlust verbunden, wir können die Dinge nicht mehr steuern. Gerade die Macher unter uns stoßen da an ihre Grenzen. Dazukommt: Der Mensch ist ein Beziehungswesen - und das Bedürfnis nach Beziehungen ist durch das Kontaktverbot nun sehr erschüttert.
Es gibt verschiedene Strategien, wie wir bisher damit umgegangen sind, wenn diese beiden Motive - Kontrolle und Beziehungen - nicht befriedigt wurden: Der eine macht alles mit sich selbst aus, andere werden sehr aktiv, wieder andere rasten unter Druck schnell aus. Nun aber sind wir gezwungen, anzuhalten, innezuhalten. Wir können auf diese Strategien nicht mehr zurückgreifen. Dann passiert Folgendes: Alte Gefühle von früher haben ganz leichtes Spiel mit uns. Wir kommen ins Fühlen. Dann kommen Einsamkeit, Überforderung und diffuse Ängste wieder hoch.
Was kann man gegen diese negativen Gefühle tun?
Eine gute Idee ist es, einfach einmal zu überprüfen: Bin ich wirklich so einsam oder wütend, wie ich mich gerade fühle? Oder erinnert mich diese Situation an eine frühere Situation? Vielleicht merkt man gar nicht, dass man hier und jetzt ganz andere Möglichkeiten hat, zum Beispiel durch Instagram und WhatsApp. Oder dass man sich anderen mitteilen kann, ihnen sagen kann: Ich bin einsam, mir fehlt der Kontakt, können wir nicht öfter telefonieren?
Die Frage »Kann ich dir helfen?« kann man sowohl an sich selbst stellen, aber natürlich auch an sein Umfeld. Man hat also auch die Möglichkeit, sich nützlich zu machen, in Kontakt zu bleiben.
Wichtig ist, dass die Menschen eine Struktur haben. Dazugehört zum Beispiel, sich morgens genauso fertigzumachen, als würde man aus dem Haus gehen, damit man nicht in eine Depression kommt. Außerdem sollte man sich kleine Highlights schaffen, sich gemeinsam etwas vornehmen, um Vorfreude zu schaffen. Den größten Stress in solchen Situationen machen wir uns selbst, weil wir zu streng mit uns sind. Wir müssen unseren eigenen Anspruch überprüfen. Man kann sich zum Beispiel einen kleinen liebevollen Beobachter zulegen. Das kann ruhig ein Plüschtier sein, das den ganzen Tag gut beobachtet und einem dann abends sagen kann, was gut gelaufen ist: dass man nicht ausgerastet ist, oder dass man geduldiger war, dass man besonders kreativ war.
Besonders gut in Krisensituationen ist es, Dinge aufzuschreiben. Alles, was einem durch den Kopf geht und was man gerade nicht klären kann, schreibt man auf. Dann ist es nicht weg, aber es ist aus dem Kopf raus.
Man sollte Zeiten festlegen, in denen man sich das Grübeln gestattet. Ebenso sollte man sich aber auch feste Zeiten setzen, in denen man sich alle negativen Gedanken verbietet. Die muss man dann regelrecht wegschieben. Das ist harte emotionale Arbeit, aber nur so wird es funktionieren.
Was kann man selbst tun, um anderen zu helfen?
Bei Menschen, die ohnehin wenig Kontakte haben, kann man einfach mal nachfragen, wie es ihnen geht und ob man etwas für sie tun kann. Und die Omas und Opas, die normalerweise zum Unterstützungssystem einer Familie gehören, kann man trotz allem einbinden. Wenn sie vorher kein WhatsApp hatten, bekommen sie es jetzt. Man kann Bilder schicken, sie können den Kindern Märchen vorlesen. Es ist heute so leicht und es bringt eine enorme Unterstützung. Omas und Opas machen das sicherlich gerne. So fühlen sie sich hilfreich, und die Eltern sind entlastet
Für viele Familien ist das gerade eine ungewöhnliche Situation. Kitas und Schulen sind zu, die Eltern im Homeoffice. Wie verhindert man Streit?
Für Eltern wäre es wichtig, einzuteilen, wer wann für die Kinder zuständig ist. Kinder brauchen Struktur und sie wissen dann, an wen sie sich wenden können. Ein Augenmerk sollte auch auf der Wohnsituation liegen. Jeder sollte ein Zimmer haben, in das er sich zurückziehen kann, in dem er nicht gestört wird. Natürlich gibt es aber auch einen Raum der Begegnung. Da kann man ruhig ganz kreativ die Wohnung neu denken.
Ist die Situation für Menschen, die psychisch vorbelastet sind, noch mal schwieriger?
Das muss nicht sein, weil es uns gerade allen schlechter geht. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Depressive beispielsweise merken, dass die anderen jetzt auch eingeschränkt sind. Für alle, die kurz vor dem Corona-Ausbruch in eine große Krise geraten sind, ist die Situation jetzt natürlich nicht besser. Aber die ganzen Hilfsdienste wie Caritas, Malteser, ProFamilia und das Sorgentelefon sowie die Ambulanzen in den Kliniken sind da, und das funktioniert auch. Wenn ich das Gefühl habe, ich komme gar nicht mehr über den Berg, dann muss ich mir Hilfe holen.
Rechnen Sie durch die Corona-Krise mit höheren Fallzahlen, was psychische Krankheiten betrifft?
Die inneren Krisen werden jetzt erst mal zunehmen. Alle, die kein soziales Netz haben, die spüren das jetzt ganz massiv. Sie sind ja jetzt nicht mehr abgelenkt. Von daher wird das sicherlich zunehmen. Jetzt kommt es auch darauf an, wie resilient man ist und wie man generell durchs Leben geht. Gut wäre es, sich jetzt mit positiven Menschen zu umgeben und die Menschen aus dem Umfeld zu sortieren: Es gibt die Energieräuber, die alles negativ sehen, und es gibt welche, die motivieren.
Und wir dürfen jetzt nicht denken: Was ist in drei, vier Wochen? Wir wissen es alle nicht. Wir müssen jeden Tag neu denken, neu erleben und neu gestalten.
Hat die Krise auch positive Seiten?
Die eigenen Schattenseiten kommen jetzt hoch, man lernt sich neu kennen. Aber das kann auch eine ganz große Chance sein. Man merkt beispielsweise plötzlich, wie gut man alleine klarkommt.
Man sollte den Blick dafür behalten, dass das Leben auch neben Corona weitergeht. Man sollte sein Augenmerk auf das richten, was gut ist, was Bestand hat. Jetzt ist die Zeit, in der es mal weniger ums Ego geht, sondern um Nächstenliebe und Mitgefühl.
Jetzt wird eine Lupe auf das ganze System gelegt. Sie bringt alle Schwierigkeiten an die Oberfläche. Aber eine Lupe sieht auch positive Dinge, die wir gar nicht mehr wahrgenommen haben. An diesen kleinen Dingen sollten wir uns jetzt erfreuen. Ich glaube, die Krise wird uns letztlich im positiven Sinne verändern. Davon bin ich wirklich überzeugt. Natürlich müssen wir erst einmal durch die Krise hindurch. Aber wir können selbstwirksam entscheiden, wie wir damit umgehen.