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»Habe mich lange genug versteckt«

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Der Frankfurter »Mr Gay«-Kandidat Noah-Miguél Pinheiro da Cruz ist glücklich, dass er jetzt er selbst sein kann. © Red

Noah-Miguél Pinheiro da Cruz ist bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen, weil diese Homosexualität verbieten. Eltern und Freunde haben den Kontakt zu ihm abgebrochen. Jetzt kämpft der 24 Jahre alte Frankfurter um den Titel »Mr Gay«.

Noah-Miguél Pinheiro da Cruz posiert fröhlich im himmelblauen Pulli mit weißem Schmetterlingsmuster und Schmetterlingskette: Der 24-Jährige spielt beim Fotoshooting in der Frankfurter Innenstadt den Song »Feels Right« von Darius & Duñe auf seinem Smartphone ab. Passender könnte ein Songtitel sein Lebensgefühl nicht beschreiben. »Ich habe mich lang genug versteckt. Jetzt endlich lebe ich das Leben, das ich möchte. Das fühlt sich so richtig an.«

Vor einem Jahr ist der Frankfurter bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen, weil er wusste, dass seine Glaubensgemeinschaft seine Homosexualität niemals akzeptieren würde. »Ich bin in diese Gemeinschaft reingeboren und war lange überzeugt: Ich gehe da niemals raus. Ich wollte meine Familie, meine Freunde nicht verlieren.« Er habe sehr gelitten und unter Tränen gebetet: »Warum kann ich nicht in Anführungsstrichen ›normal‹ sein?«

Und wirklich: Seit seinem Ausstieg haben die meisten Familienmitglieder und alle alten Freunde den Kontakt zu ihm komplett abgebrochen. »Meine Eltern haben sogar meine Nummer blockiert. Ich kann sie nicht mal mehr anrufen oder ihnen eine WhatsApp schreiben. Das ist sehr hart.« Nun kämpft Pinheiro da Cruz um den Titel »Mr Gay Germany 2023«. Er ist einer von zwölf Kandidaten.

Zum ersten Mal wird der Wettbewerb als Reality-Format auf dem kostenlosen Streamingdienst Joyn gezeigt. In Folge 2 beeindruckt Pinheiro da Cruz, weil er 15 Minuten im Plank - also im Unterarmstütz - durchhält und diese Chal-lenge gewinnt. Alle zehn Folgen sind bereits im Herbst in Spanien abgedreht worden. Das Finale wird erst im Februar ausgestrahlt. So lange darf Pinheiro da Cruz, der in Darmstadt als Optiker arbeitet und gerne sehr markante Brillengestelle trägt, nicht verraten, ob er den Titel gewonnen hat.

Wichtig ist ihm, zu betonen, dass es trotz Fotoshootings und sportlichen Herausforderungen eben kein Schönheitswettbewerb sei. »Das Herzstück der Show ist eine Kampagne, die jeder auf die Beine stellen muss. Meine heißt: ›Don’t live another life. Leb kein anderes Leben.‹ Ich will den Leuten sagen: Lasst euch nicht in eine Form pressen, in die ihr nicht reinpasst, denn das macht euch nur krank.« Wie er die Kampagne umsetzt, soll in der Show zu sehen sein.

Pinheiro da Cruz ist in Fulda geboren, in Alsfeld wächst der Sohn eines Portugiesen und einer Deutschen auf. Mit 13 Jahren küsst er zum ersten Mal einen Jungen. »Da habe ich gemerkt, wo ich hingehöre. Aber gleichzeitig hatte ich Panik: ›Noah, hör auf damit, beschäftige dich mit etwas anderem‹, weil meine Glaubensgemeinschaft Homosexualität nicht erlaubt.« Gleichzeitig habe er aber schon damals angefangen, seinen Glauben zu hinterfragen. Seine Eltern finden 2013 zufällig heraus, dass er mit einem Jungen auf Facebook schreibt. »Da ist zu Hause der blanke Horror ausgebrochen. Meine Eltern sagten, dass das krank sei. Mein Vater betonte, dass selbst wenn er kein Zeuge Jehovas wäre, könnte er mir die Backen vollhauen. Das hat mich emotional sehr verletzt. Ich saß die ganze Nacht im Bett und habe die Wand angeschaut und nur geheult.«

Irgendwann habe er sich eine Taktik überlegt: »Ich spiele allen vor: Es war nur eine Phase, und jetzt ist meine Homosexualität wieder weg.« Er habe es mit einer Freundin probiert, aber das habe ihm nichts gegeben. »Also habe ich mich entschlossen, alleine zu bleiben. Ich wollte das keiner Frau antun, sie zu heiraten, sie wäre todunglücklich geworden.«

2020 hat er eine heimliche Urlaubsromanze in Portugal. »Ein paar Monate später habe ich mich bei meinen Kollegen geoutet. Sie haben gegrinst und gesagt: ›Ach, endlich sagt er es.‹ Ich war positiv überrascht. Es war das erste Mal, dass ich durchatmen konnte. Zumindest auf der Arbeit konnte ich so sein, wie ich bin.« Ansonsten lebt er zunächst sein Leben wie bisher weiter. »Irgendwann habe ich es aber mental nicht mehr geschafft. Ich habe Vollzeit gearbeitet, habe versucht, mich mit Gemeindearbeit abzulenken, habe aber dann nur noch ganz still vor mich hin gelebt. Ich war eine leere Hülle.« 2021 lernt er seinen ersten Freund kennen. »Er hat mir sehr geholfen mit dem Ausstieg. Ich habe zuvor tagelang überlegt: Kämpfst du, oder lässt du es bleiben? Aber dann habe ich mir vorgestellt, wie ich mit 80 Jahren in meinem Stuhl sitze und darüber nachdenke: ›Wie war dein Leben?‹ Und ich dachte, dass ich es total bereuen würde, dass ich nie ich selbst war.«

Als er ausgestiegen sei, habe seine Mutter bitterlich geweint. »Meine Mama und ich sind ganz stark miteinander verbunden. Sie ist die Person, die ich am meisten vermisse.« Dann sagt er: »Meine Mutter stellt die Religion über ihren Sohn.« Er habe aber wieder Kontakt mit seinem drei Jahre älteren Bruder, der schon vor langer Zeit bei den Zeugen Jehovas ausstieg. »Er liebt und akzeptiert mich, wie ich bin.« Mit seinem ersten Freund ist er nicht mehr zusammen: In der Show knutscht er mit seinem Konkurrenten Alvin. Ja, sie mögen sich sehr, sagt Pinheiro da Cruz. Haben sie sich verliebt? Das will er nicht verraten, die Leute sollen ja die Show schauen.

Eine Sache liegt ihm noch am Herzen: »Auch wenn ich meine Freunde und meine Eltern verloren habe: Ich habe so viel gewonnen. Ich habe jetzt eine neue Familie, Freunde, die für mich da sind. Seid ihr selbst, es lohnt sich. Denn erst jetzt merke ich, wie schön das Leben ist. Wie oft ich in den letzten Monaten einfach gelacht habe aus dem Nichts heraus: Ich kann es gar nicht zählen.«

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