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Fragen der Angehörigen bleiben

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Polizeibeamte am Einsatzort in Frankfurt-Griesheim: Bei ihrem Einsatz im Juni 2021 war der damals 41-jährige Soner Atasoy erschossen worden. © DPA Deutsche Presseagentur

Jede neue Meldung über tödliche Polizeischüsse reißt bei Fatma Gallmeier und ihren Schwestern Wunden auf. Ihr Bruder wurde im vergangenen Jahr in Griesheim bei einem Polizeieinsatz erschossen. Zu Unrecht, sagt die Familie des Getöteten. Die Ermittlungen gegen die Beamten wurden jedoch eingestellt.

Als Fatma Gallmeier am 22. Juni 2021 die Polizeiabsperrung im Frankfurter Stadtteil Griesheim erreicht, hat sie ein ungutes Gefühl. Ihr 41 Jahre alter Bruder Soner lebt in der Straße, er geht nicht ans Telefon, als sie und ihre ältere Schwester versucht haben, ihn zu erreichen. Fatma Gallmeier wendet sich an einen Polizisten, schließlich erscheint ein Seelsorger. »Es hieß, es gebe einen Todesfall, aber sie wüssten nicht genau, wer das Opfer ist«, erzählt die schmale Frau im weißen Sommerkleid. Da habe sie bereits am ganzen Leib gezittert, voller Sorge um ihren Bruder.

Es fällt Fatma Gallmeier schwer, die Fassung zu bewahren, wenn sie sich an den Tag zurückerinnert, an die zunehmende Angst und schließlich die Gewissheit: Ihr Bruder ist tot. Soner Atasoy wurde bei einem Polizeieinsatz angeschossen, er verblutete in seiner Wohnung.

Atasoy war psychisch krank, seine Schwestern kümmerten sich gemeinsam um ihn, doch er konnte alleine in seiner Wohnung leben. Esma Schickedanz, die ältere Schwester, hatte zuvor in sozialen Medien etwas über einen Vorfall in Griesheim gehört und Gallmeier alarmiert.

»Uns war klar, da ist etwas ganz Schlimmes passiert«, sagt Schickedanz, die immer wieder in die Gegenwartsform wechselt, wenn sie von ihrem Bruder spricht. »Wir haben erst gedacht, er ist vielleicht überfallen worden. Er ist unglaublich ängstlich und unsicher, und das sieht man. Aber ich habe niemals daran gedacht, dass die Polizei dabei eine Rolle spielt.« Ein Nachbar hatte die Beamten wegen Ruhestörung benachrichtigt.

In der ersten offizielle Mitteilung der Polizei zum Tod von Soner Atasoy heißt es knapp: »Als die Polizeistreife vor Ort eintraf, wurde sie von einem 41-jährigen Mann angegriffen, welcher mit einem Messer und einer Schusswaffe bewaffnet war. Im weiteren Verlauf kam es zum polizeilichen Schusswaffengebrauch.«

Welche Konsequenzen hatten die tödlichen Schüsse der Polizei in Griesheim? Das Ermittlungsverfahren gegen eine Polizistin und einen Polizisten, die bei dem Einsatz geschossen hatten, wurde vor einigen Wochen eingestellt. Die beschuldigten Polizeibeamten befanden sich nach Auffassung der Staatsanwaltschaft in einer Notwehrlage, hieß es damals. Die tödliche Schussabgabe sei berechtigt gewesen.

Selbst wenn keine Notwehrsituation vorgelegen habe, sondern die Beschuldigten dies nur glaubten, läge ein sogenannter Erlaubnistatbestandsirrtum vor, erklärt die Staatsanwaltschaft. Da es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Beschuldigten ihren Irrtum hätten vermeiden können, bestehe auch kein hinreichender Verdacht einer fahrlässigen Tötung.

Damit ist für die Staatsanwaltschaft der Fall abgeschlossen - es sei denn, eine Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft hat Erfolg. Denn die Schwestern des getöteten Mannes wollen sich damit nicht abfinden, sie haben die Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen eingereicht. Eine Entscheidung darüber liege noch nicht vor, sagt Anwältin Seda Basay-Yildiz, die Gallmeier vertritt.

»Unser Bruder war psychisch krank, aber nicht psychotisch oder aggressiv«, betont Schickedanz. »Er hatte keine Wahrnehmungsstörungen, er hat keine Gefahr dargestellt. Er hat in seiner eigenen Welt gelebt, aber er war nicht wahnhaft. Genau das wird auch aus der Akte bestätigt.« Diese Akte ist nur den Verfahrensbeteiligten zugänglich.

Laut den Schwestern steht unter anderem darin: Ehe die insgesamt drei Polizisten - neben den beiden Beamten, die zur Waffe gegriffen hatten, war auch ein Kommissaranwärter bei dem Einsatz gewesen - die Wohnung aufgesucht hatten, habe der Schichtleiter auf die psychische Krankheit des 41-Jährigen hingewiesen und betont, der Mann sei harmlos. Er habe sogar Grüße ausrichten lassen.

Auch die Aussage des Kommissaranwärters lasse keine Bedrohungssituation erkennen, die einen Schusswaffengebrauch rechtfertige, so die Schwestern. »Es ist hart, zu wissen, dass die Beamten einfach ihren Auftrag nicht ausführen konnten, dass die überfordert waren, mit der Situation nicht klarkamen, dass alles aus dem Ruder gelaufen ist.« Mit Gerechtigkeit habe die Einstellung der Ermittlungen nichts zu tun, sagt Gallmeier. »Wir haben eigentlich an das System geglaubt und dass alles korrekt abläuft - aber so war es nicht.«

Schickedanz hatte Nachbarn befragt, was sie von dem Vorfall mitbekommen hätten. Die berichteten, ihr Bruder sei bis zum Schluss ruhig gewesen, von einer Aggression hätten sie nichts bemerkt.

»Wir werden das nicht ruhen lassen«, betont Gallmeier. Zusammen mit ihren beiden Schwestern habe sie sich auf eine lange Zeit des Kampfes um Wiederaufnahme der Ermittlungen eingestellt. »Da ist einem Menschen zu Unrecht das Leben genommen worden. Ich kämpfe für meinen Bruder. Und es gibt ja auch immer mehr solcher Vorfälle. Wenn ich die Polizei sehe, möchte ich mich doch sicher fühlen und nicht glauben, dass die eine Gefahr darstellen.«

Wann Polizisten zur Waffe greifen dürfen, regelt das Hessische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Demnach dürfen Polizisten nur schießen, wenn andere Maßnahmen erfolglos angewendet wurden oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen. Zudem darf nur auf Menschen geschossen werden, wenn ein Schuss auf Objekte keine Alternative ist.

Eine weitere Regel ist, dass Personen mit der Waffe angriffs- oder fluchtunfähig gemacht werden sollen. Ein tödlicher Schuss ist nur zulässig, wenn damit eine Lebensgefahr oder eine schwerwiegende Verletzung von weiteren Personen abgewehrt wird. Auf Menschen, die offensichtlich noch nicht vierzehn Jahre alt sind, darf grundsätzlich nur bei Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben geschossen werden. Auch bei einer Gefährdung Unbeteiligter darf die Waffe nur im äußersten Notfall verwendet werden.

Laut Statistik setzten Polizisten in Deutschland 2021 insgesamt 139-mal die Waffe gegen Menschen ein. In dem Jahr starben demnach acht Menschen an den Folgen von Polizeischüssen. dpa

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