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Ein Dokument des Versagens

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Nicht vergessen: Auf einer Kundgebung in München wird an die Opfer des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) erinnert. © Red

Wiesbaden - Es ist aktuell das vermutlich berühmteste Behördenpapier in ganz Hessen: Der interne Prüfbericht des hessischen Verfassungsschutzes zur Mordserie der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU). Im Juni 2012 hatte der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) angewiesen, seine Akten ab 1992 systematisch nach Erkenntnissen über das NSU-Kerntrio und dessen Umfeld, aber auch allgemein zu militanten und terroristischen Neonazistrukturen zu durchforsten.

Der Abschlussbericht, den es in zwei Versionen von 2013 und 2014 gibt, sollte ursprünglich bis zum Jahr 2134 geheim bleiben, aktuell ist er es noch bis 2044. Nachdem jahrelang über den Umgang mit dem brisanten Papier diskutiert wurde, das in der Öffentlichkeit oft auch als »NSU-Akten« bezeichnet wird, hat das Satiremagazin »ZDF Magazin Ro-yale« es am vergangenen Freitag ins Internet gestellt. Die FR hat das knapp 180 Seiten lange Papier ausgewertet und beantwortet die wichtigsten Fragen.

?Ist der geleakte Bericht wirklich das Original?

Ganz klar ist das noch nicht, weder das LfV noch das hessische Innenministerium wollen die Echtheit bestätigen. Es spricht aber viel dafür, dass das »ZDF Magazin Royale« den echten Bericht geleakt hat. Erstens deuten FR-Informationen in diese Richtung, zweitens hat das LfV Strafanzeige gegen unbekannt gestellt - wegen der Weitergabe geheimer Dokumente. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hätte kaum gesagt, dass er über den Leak »nicht begeistert« sei, wenn der Bericht nicht echt wäre.

?Wie ist der Bericht aufgebaut?

Der Prüfbericht selbst umfasst nur 15 Seiten, dahinter folgen zahlreiche Anhänge, etwa mit Namen von Unterstützern des NSU, Listen von dessen Taten oder mit Hinweisen auf andere militante Neonazis, die in den Akten gefunden wurden.

?Wie lief die Aktenprüfung ab?

Die Aktensichtung im LfV dauerte von Ende Juni bis Anfang Dezember 2012. Dabei wur- den alle Unterlagen aus dem Bereich Rechtsextremismus seit 1992 auf Bezüge zum NSU überprüft, insgesamt ging es um rund 3500 Aktenbände und eine Million Blatt Papier. Zudem wurden rechtsextreme Publikationen und Rechtsrock-CDs gesichtet. An dieser Aufgabe waren im Schnitt 27 Mitarbeiter des LfV beteiligt.

?Was sind die zentralen Erkenntnisse des Berichts?

Ein Befund ist, dass das LfV in den 1990er und 2000er Jahren unprofessionell, ja regelrecht schlampig gearbeitet hat. Die Aktenführung war chaotisch, viele Dinge wurden laut dem Bericht nicht geordnet oder mehrfach abgeheftet, es gab zudem »eine große Menge an nicht registriertem Material«. Insgesamt 541 Aktenstücke waren zum Zeitpunkt der Prüfung einfach verschwunden. Die Hälfte dieser Akten soll inzwischen wiedergefunden worden sein. Trotzdem: »Eine abschließende Sicherheit, dass Personen, Objekte und Ereignisse im Zusammenhang mit dem NSU und seinem Umfeld stehen oder stehen konnten, lässt sich daraus aber nicht ableiten.« Kurz gesagt: Das LfV konnte 2012 wegen fehlender Unterlagen nicht abschließend klären, was es vor 2011 über den NSU wusste.

Eine zweite wichtige Erkenntnis: Das LfV hatte viele Hinweise auf Waffen- und Sprengstoffbesitz in der rechten Szene. Von 950 Hinweisen, die bei der Aktensichtung auffielen, betrafen 41 Prozent die Bewaffnung von Neonazis. Nur bei wenigen Akten ließ sich ein direkter NSU-Bezug erkennen, auch nur mit nachträglichem Wissen um die Terrorzelle. Deshalb heißt es in dem Papier: »Es gab keine Bezüge oder Informationen zu den Straf- und Gewalttaten des NSU.« Zugleich steht dort, dass mit den Hinweisen auf Waffen und Sprengstoff meist nichts getan wurde. »In der Auswertung erfolgten häufig weder Nachfragen bei Quellen noch wurde versucht, den Sachverhalt durch ergänzende Informationen anderer Behörden zu verifizieren oder in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und zu bewerten.« Der Verfassungsschutz, der ein »Frühwarnsystem« sein soll, hatte also konkrete Hinweise darauf, dass Neonazis sich bewaffnen, hörte sogar von Wehrsportübungen, einem »nationalen Untergrund« oder »National Sozialistischen Untergrundkämpfern Deutschlands«, unternahm aber nichts. Der Bericht drückt es so aus: »Interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen.«

?Was ist noch neu in dem Bericht?

In den langen Listen, die dem eigentlichen Bericht angehängt sind, findet sich teils extrem Beunruhigendes, etwa Hinweise darauf, dass das LfV Ende der 1990er Jahre einer möglichen rechtsterroristischen Struktur im Raum Kassel nachging. Der Generalbundesanwalt sah sich damals nicht zuständig, gegen die Gruppe zu ermitteln. Es finden sich auch Hinweise auf Bezüge hessischer Rechtsextremer zum NSU-Umfeld, aber auch direkt zur NSU-Terroristin Beate Zschäpe.

?Wie relevant ist der geleakte Bericht für die Aufklärung des NSU-Komplexes?

Das ist noch nicht abschließend einzuschätzen. Klar ist jedoch, dass das Papier für den gesamten NSU-Komplex nicht so zentral ist, wie die öffentliche Debatte um die »NSU-Akten« es teils vermuten ließ. Weil der Prüfbericht zunächst für extrem lange 120 Jahre geheim gehalten werden sollte, war zeitweise ein regelrechter Mythos um ihn entstanden - als sei er das zentrale Dokument zum NSU-Terror überhaupt. Das ist er nicht. Dem hessischen Verfassungsschutz stellt der Bericht allerdings ein vernichtendes Zeugnis aus, er ergänzt damit in unschöner Weise die Ergebnisse des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses. Schon dieses parlamentarische Gremium hatte dem LfV in seinem Bericht 2018 eine unzureichende Arbeitsweise in den 1990er und 2000er Jahren bescheinigt.

Die Akten, die das Magazin veröffentlicht hat, finden sich im Internet unter: www.nsuakten.gratis. Hanning Voigts

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