1. Gießener Allgemeine
  2. Hessen

Die Notfälle häufen sich

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Energiekosten_73733464_2_4c_1
Durch die steigenden Preise, insbesondere für Energie, werden wohl bald noch mehr Menschen Bedarf an einer Schuldnerberatung haben. © DPA Deutsche Presseagentur

Ulrike Sehring, Expertin für Schuldnerberatung bei der Diakonie Hessen, spricht im Interview über die Folgen von Corona und Krieg, zusätzliche Hürden für Betroffene und Hilfsangebote.

Wenn es um Probleme von Schuldnerinnen und Schuldnern und deren Beratung geht, weiß kaum jemand so viel wie Diakonie-Referentin Ulrike Sehring. Seit 13 Jahren ist sie in dem Bereich tätig. Mittlerweile bietet die Schuldnerberatung der Diakonie Erklärvideos an. Sehring hat daran mitgearbeitet - und legt auch im Interview viel Wert auf Klarheit.

Frau Sehring, die Teuerungsrate steigt seit vielen Monaten und lag in Hessen zuletzt bei acht Prozent. Wie hat sich das auf die Schuldnerberatung ausgewirkt?

Bislang nur in geringem Umfang. Die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs und der Inflation sind noch nicht bei uns »angekommen«. Dies geschieht bei Einschnitten immer etwas später. Ein wesentlicher Grund ist, dass Schuldnerberatung besonders schambehaftet ist, stärker zum Beispiel als Familienberatung. Die Betroffenen kommen oft erst, wenn es gar nicht mehr anders geht und sie die Dinge nicht mehr selbst regeln können.

Was kommt bald auf die Schuldnerberatung zu?

Wir rechnen mit mehr Beratungsbedürftigen, zum Beispiel Menschen, die Kredite laufen haben oder bei denen es schon länger Spitz auf Knopf stand und keine Rücklagen vorhanden sind. Derzeit wird alles teurer, besonders Energie. Die Hilfen von Bund und Ländern reichen bei vielen nicht aus, gehen zum Teil mit Bürokratie einher und fließen nicht sofort. Doch bereits vor dem Ukraine-Krieg ist die Nachfrage in unseren Beratungsstellen um etwa ein Drittel gestiegen.

Weshalb?

Vor allem aufgrund der Corona-Pandemie und ihrer Konsequenzen. Plötzlich kamen auch Leute zu uns, die vorher so gut wie nie bei uns gewesen waren: Menschen in Erwerbsarbeit in der Gastronomie, im Eventbereich, am Flughafen, etwa von der Betreibergesellschaft Fraport. Ihnen machten etwa die Kurzarbeit, befristete Verträge oder prekäre Bedingungen zu schaffen. Hinzukamen Soloselbstständige und Menschen mit Migrationsgeschichte, die eigentlich keine Zahlungsprobleme hatten, aber wegen sprachlicher Hürden - die sich stärker auswirkten, weil Ämter in der Pandemie zeitweise nur schriftlich zu erreichen waren - zum Beispiel Fristen nicht einhalten konnten. Die erstgenannten Gruppen haben übrigens keinen Rechtsanspruch auf Schuldnerberatung.

Warum ist das so?

Weil sie keine Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch beziehen. Sie müssen für die Beratung zahlen, wenn ihre Kommune diese nicht als freiwillige soziale Leistung finanziert. Wir setzen uns dafür ein, den Rechtsanspruch auszuweiten - und Beratungsstellen stärker, auch durch die Länder, zu fördern, weil dort Personalmangel herrscht.

Wie helfen die Berater?

Viele Hilfsbedürftige greifen erst zum Hörer oder kommen in unsere offene Sprechstunde, wenn sie bereits im Dunkeln sitzen, weil der Strom abgestellt wurde, oder sie bald ihre Wohnung verlassen müssen. Unsere Hauptaufgabe ist dann, mit den Gläubigern über Stundungen oder Ratenzahlungen zu verhandeln. Außerdem versuchen wir, neue Geldquellen zu erschließen, etwa staatliche Hilfs- und Förderangebote. Viel Zeit in Anspruch nehmen auch die Pfändungsschutzkonto-Bescheinigungen, die wir ausstellen, damit den verschuldeten Menschen nicht auch noch das Existenzminimum gepfändet wird. Zu einer klassischen Schuldnerberatung kommen unsere Fachleute zurzeit kaum.

Weshalb?

Die Notfälle - also etwa Räumungsklagen und Stromsperren - häufen sich und lassen wenig Zeit für anderes. Die langfristige, umfassende Beratung muss deshalb in den Hintergrund treten und ist mit Wartezeiten verbunden.

Aus welchen weiteren Gründen brauchen Leute eine Schuldnerberatung?

Die wesentlichen Ursachen für Schulden sind seit Jahrzehnten gleich: Erwerbslosigkeit, Trennung oder der Tod des Partners beziehungsweise der Partnerin, prekäre Arbeitsverhältnisse und mangelnde finanzielle Bildung. Die beiden letztgenannten Probleme haben in den vergangenen Jahren zugenommen. Zu unseren meistgeklickten Videos auf Youtube zählt jenes, in dem wir erklären, wie ein Girokonto funktioniert. Die Finanzwelt, etwa der Zahlungsverkehr und die Möglichkeiten der Finanzierung, ist in den vergangenen Jahren komplizierter geworden. Es ist schwierig, sich ohne Fachkenntnisse zurechtzufinden.

Gibt es bei der Nutzung Ihrer Hilfe ein Stadt-Land-Gefälle?

In der Tat ist unsere Hilfe in Offenbach, Hanau, aber auch Wiesbaden stärker gefragt als in ländlichen Gegenden. Dort fallen Schulden weniger auf, auch weil das soziale Netz oft enger geknüpft und die Scham aufgrund von Schulden etwas größer ist. In Städten wiede-rum gibt es mehr prekäre Arbeitsverhältnisse. Auf dem Land leben aber auch viele Menschen, die Probleme mit Schulden haben, etwa weil sie ein Haus gekauft haben, das sie sich irgendwann nicht mehr leisten können. Dies wird in den nächsten Jahren wohl häufiger der Fall sein, auch weil die Zinsen steigen.

Wie lässt sich Überschuldung noch vermeiden?

Es gibt viele Stellschrauben. Eine davon ist Bildung: Junge Leute sollten lernen, wie man mit Geld umgeht, damit sie nicht in eine Zahlungsfalle geraten. Darüber hinaus sollten Wohnungsbaugesellschaften auf Räumungsklagen verzichten und auch andere Gläubiger eher zu Stundungen oder Ratenzahlungen bereit sein - und möglichst keine Inkassobüros einschalten. Diese schlagen auf die Beträge relativ hohe Summen drauf, was den Schuldnern den Ausweg versperrt. Die Branche sollte stärker kontrolliert werden. Zudem kann es nicht sein, dass der Schufa-Eintrag erst drei Jahre nach einer Privatinsolvenz getilgt wird. Das muss dringend geändert werden.

Auch interessant

Kommentare