Zurück nach Meppen

Gießen (clg). Im Jahre 1988 setzte Toni Schumacher mit seinem Wellen schlagenden Spruch »Ich spiel doch nicht in Meppen!« die kleine Stadt im Emsland in den Hitlisten der Provinzkäffer auf einen Spitzenplatz, Häme und empörter Aufschrei inbegriffen. Doch was ist, wenn man, da man der Enge und dem Elternhaus endlich entflohen ist, im eben wiedervereinten Berlin in einer Kreuzberger Chaoten-WG lebt und erste Meriten als Schriftsteller sammelt, immer wieder aus familiären Gründen zurück muss in die »schauerlichen« Gefilde der Jugend?
Davon erzählt Gerhard Henschel, groß geworden in Meppen, im 9. Band seiner Martin Schlosser - Reihe, dem Ende 2021 erschienenen »Schauerroman«.
Martin Schlosser, der am selben Tag wie der Autor geboren wurde, am selben Tag Abitur machte und dieselben Frauen küsste wie Henschel, wird - wir schreiben das Jahr 1992- von seinem Vater immer wieder nach Hause, eben nach Meppen, beordert. Der Vater, wird nach dem Tod der Mutter zusehends bitterer. »Seit Papa verwitwet war, sprach er in unregelmäßigen Abständen Bannflüche aus. Mal über mich, mal über seine Brüder.« Der Vater war, erzählt Henschel im Gespräch mit Julia Stein von der mitveranstaltenden Kempowski-Gesellschaft, physisch und seelisch schwer lädiert aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Nun wartet er, fluchend und wütend, auf seinen Tod, während der 30-jährige Sohn ihm den Haushalt macht. Man betrachte nur das Cover des Buches. Da sitzt Henschel vor einem demolierten Geschirrspüler, übervoller Aschenbecher und Raviolidose inklusive. Wahrlich schauerlich.
Ganz im Gegenteil dazu das euphorische, bierselige und dauerdichtende Leben in Kreuzberg, welches schon immer Sammelbecken bundesdeutscher Provinzflüchtlinge war. Kleine literarische Erfolge, ein erstes Buch, »Menschlich viel fieses« und Lesereisen in die damals wirklich neuen Bundesländer. »Die Lautsprecherkommandos auf den Bahnsteigen erschollen noch immer im barschen Tonfall der sozialistischen Obrigkeit, und in den Waggons der Reichsbahn stank es, wie schon vor dem Mauerfall, nach dem todbringenden Desinfektionsmittel Wofasept aus Bitterfeld.«
Der schreckliche Bob Dylan
Die Tage und Nächte quellen über. Und dann ist da noch Lydia, die Angebetete. Erst erhört sie den jungen Dichter, um ihn dann in der von ihm renovierten, gemeinsamen Wohnung sitzen zu lassen. Was tun? Ab in die nächste Kneipe und mit den Gefährten eine Hitliste der schlechtesten Dylansongs erstellen. »Musse feife inne Wind!« verballhornen sie Dylans schreckliche Lagerfeuerlied.
Gerhard Henschel ist ein literarischer Jäger und Sammler. Ganz in der Tradition seines Lehrmeisters Walter Kempowski und dessen »Deutschen Chroniken«, da vor allem »Tadellöser & Wolff«, ist er gewissenhafter, fast schon verbissener Archivar des vermeintlichen Nebensächlichen oder Profanen. Jedes am WG-Tisch entstandene Poem, jeder auch noch so misslungene trunkene Witz, etliche Textzeilen aus Songs, jede Postkarte wird gelocht, abgeheftet, eingelagert. Alle Begegnungen mit Freunden und Kollegen finden Erwähnung. So rät ihm der Kollege Frank Schulz (Das Ouzo - Orakel) für Lesungen: »1. Nie vor weniger als einer Person lesen; 2. nie vor feiernden Finanzbeamten lesen; 3. bei Kneipenlesungen darauf bestehen, dass die Musik ausgemacht wird.« So entsteht aus unzähligen Nebengleisen ein dicker, komischer und berührender Erzählstrang. Leben in all seinen Facetten.
Henschel liest virtuos mit wechselnden Stimmen und ist ein uneitler und pointensicherer Gesprächspartner. Am Ende des wunderbaren Abends schließt sich der Kreis. Nächstes Jahr wird Henschel der »Kasseler Preis für grotesken Humor« verliehen. Den hatte schon Loriot erhalten. Der Vater, selber fanatischer Sammler alter Briefe, Eintrittskarten und sonstiger Dokumente, hatte für das literarische Mühen des Sohnes nur ein abfälliges »Deine Sätze sind zu lang!« übrig. Andererseits aber war er ein großer Fan von Loriot. Tja, was würde er, schon lange verstorben, jetzt sagen? Zurück nach Meppen.
