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Zum Nachdenken bewegt

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Das Team der Friedrich Ebert Schule. © Christian Lugerth

Gießen war vor dem Fall der Mauer für viele Bürger der DDR gleichbedeutend mit Freiheit. Geflüchtete, Ausgewiesene oder freigekaufte politische Häftlinge wurden im Notaufnahmelager Meisenbornweg aufgenommen und von dort aus auf die Republik verteilt. Folgerichtig begann nun vor den Toren des ehemaligen Lagers der sogenannte »Football History Walk in Ost und West«.

Die Idee zu fußballhistorischen Rundgängen, die in mehreren Städten stattfinden, stammt vom Berliner Verein »Brot & Spiele« - ein »Treffpunkt von Kulturbegeisterten und Sportfans, die in Berlin und Europa sport- und fußballkulturelle Events organisieren«. Unter dem Titel »An die Wand gespielt« hatten Schüler der Friedrich-Ebert-Schule in nur drei Workshoptagen einerseits die deutsch-deutsche (Fußball-)Geschichte Gießens erkundet und lernten ihr neues Wissen praxisnah zu präsentieren. Es wurde ihnen der Umgang mit Kamera, Licht und Ton vermittelt, um Interviews mit Zeitzeugen zu führen, thematisch passende Kurzfilme für den Walk auszuwählen und so das Programm des Gießener Fußballspaziergangs eigenverantwortlich zu gestalten. Und dies ist ihnen wunderbar gelungen.

Zeitzeugengespräch und Trillerpfeife

Im Zentrum stand ein Gespräch mit Ex-Bundesliga-Profi Norbert Nachtweih, der nach seiner Flucht nach einem Spiel der DDR-U21-Nationalelf in der Türkei 1976, einige Tage in der Notaufnahmestelle am Meisenbornweg verbrachte hatte. Nach all den Jahren immer noch bewegt von seinen Erinnerungen an die Tage in Gießen, schilderte er im Gespräch mit einer Schülerin, deren Familie aus dem Iran geflohen war, wie es ihm während und nach der Flucht ergangen war. Das Interview, Anfang der Woche im Jokus von den Schülern aufgezeichnet, wurde auf ein Laken projiziert, befestigt an jenem Stück Mauer, das vor dem Hauptbahnhof steht. Ein sinnfälliger Ort in einer Stadt, die schon immer Flüchtende mit erstaunlich offenen Armen aufgenommen hat und dies noch immer tut. So verband sich Geschichte und Aktuelles wie selbstverständlich.

Vier Stationen hatte der Football History Walk. Am Meisenbornweg wurde ein Film gezeigt, der deutsch-deutsche Sportgeschichte beleuchtete, etwa den historischen Sieg der DDR über den späteren Weltmeister 1974. Moderiert und stilecht angepfiffen mit Trillerpfeife und Fußball wurden die Beiträge von Schülern. Die versuchten auch Zuschauer ins Gespräch miteinzubeziehen. Manches blieb unverständlich - Umgang mit Mikrofonen muss gelernt sein - aber stets war den Schülern ihr Engagement und der Spaß an dieser gänzlich anderen Art von Geschichtsunterricht anzumerken. Nach der Station Hauptbahnhof ging es weiter zum Innenhof des Hotel Köhler. Dort, so erzählt man, wurden einst etwas besser gestellte Flüchtlinge untergebracht. Hier wurde der Kurzfilm »Abseits« gezeigt. Vor dem neuen Eigenheim einer Familie sind Flüchtlinge untergebracht. Der Sohn kommt mit den Geflohenen in Kontakt, kickt mit ihnen und als sich ein Flüchtlingsjunge verletzt, nimmt er ihn mit nach Hause. Die Mutter drückt dem Blutenden Pflaster in die Hand und lässt ihn einfach stehen, doch der Vater hilft dem Jungen. Ein schöner kleiner Film über Empathie und Solidarität mit Menschen auf der Flucht, die vor allem eines sind: Menschen wie wir. Passend dazu brüllte ein Hotelgast vom Balkon, man möge gefälligst leiser sein. Eine andere Art der Willkommenskultur.

Letzte Station war der Schulhof der Goetheschule. Ein Film, dem das Zitat vorangestellt war, dass Fußball eine Art Schlüssel zu politischer Bildung sei, feierte zum Schluss die verbindende Kraft dieses Sports und meinte damit die ewige Faszination des Spiels. Oder wie einer der Schüler bei der Abmoderation sagte: »Fußball ist nicht nur Sport, sondern etwas Größeres. Er bringt Leute zusammen.« Und so hat Fußball an diesem erfreulichen Abend tatsächlich, man mag es kaum glauben, Menschen dazu gebracht nachzudenken. Ein wertvolles Projekt.

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