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Zeitzeugen vom Meisenbornweg in Gießen gesucht

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Von: Karola Schepp

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Die ersten Beteiligten an der Massenflucht von DDR-Bürgern über den ungarischen Grenzort Sopron treffen am 20. August 1989 im Zentralen Aufnahmelager des Landes Hessen in Gießen ein. © Red

Gießen war für Bürger der DDR einst ein Sehnsuchtsort, und das Notaufnahmelager im Meisenbornweg war im Wendejahr 1989 für Zehntausende erste Anlaufstelle. Theatermacher Boris Ben Siegel sucht nun Zeitzeugen,

Wo beginnt eigentlich der Osten? Diese Frage stellte sich der Theatermacher Boris Ben Siegel schon, als er selbst als 25-Jähriger im November 1989 von Annaberg-Buchholz im Erzgebirge in den Ludwigshafener Hemshof zog, also von Ost nach West. Ist er damit vielleicht sogar von Ost- nach Westeuropa umgesiedelt? Und wo beginnt eigentlich der Osten?

Vielleicht sogar in Gießen? Denn hier war seit den Zeiten des Kalten Krieges für viele Ostdeutsche der Anfang des Westens. »Gießen« wurde zum geflügelten Wort, es gab in der DDR sogar Witze über die Stadt an der Lahn, die sich gegen die damalige Staatsführung richteten. Und als im Wendejahr 1989 schließlich die Mauer fiel, erlangte Gießen weltweite Bekanntheit. Das Notaufnahmelager im Meisenbornweg wurde für Zehntausende erste Anlaufstation im Westen. Nirgendwo in Westdeutschland war der Osten so nahe wie in diesen Jahren in Gießen. Zumindest könnte man das meinen. Denn tatsächlich gab es hier eine permanente Ansammlung von Ostdeutschen wie in keiner anderen Stadt im Westen.

Dieser Zeit will Boris Ben Siegel nun mit einem performativen Zeitzeugentheater im Rahmen des diesjährigen Kultursommers Ludwigshafen am Rhein nachspüren, der vom 1. Juni bis 31. August stattfindet. Der Leiter des von ihm gegründeten Theaters Oliv in Mannheim macht sich dafür von der Kurpfalz auch auf ins Mittelhessische und will hier vor Ort mit Menschen sprechen, die diese Zeit selbst erlebt haben - Menschen, die aus der DDR nach Gießen kamen, aber auch Gießener, die Zeitzeugen wurden oder über ihre Wahrnehmung aus heutiger Sicht erzählen möchten. »Ich möchte Menschen treffen, die sich an den November 1989 erinnern und gern von ihren Eindrücken berichten möchten. Wie sie zum Beispiel die Konvois der Trabis und Wartburgs in Gießen damals erlebten. Ob sie seitdem dem Osten etwas näher gerückt sind. Oder eher nicht. Ob sie froh waren, als wieder Normalität in Gießen einkehrte. Oder ob es eine sehr spannende Zeit war mit vielen Begegnungen«, schildert er seine Motivation. Siegel will erkunden, wie sich die Ankömmlinge aus der DDR damals in Gießen fühlten. Aber auch was die Gießener damals über die »Durchgangsdeutschen« dachten. »Waren es Flüchtlinge für sie? Migranten? Machte das alles Angst oder Hoffnung? Wie stark hat das einen tangiert in seinem Alltag? Und war einem die Teilung Deutschlands deswegen präsenter?« - Boris Ben Siegel will die Geschichten hinter der Geschichte erfahren und hofft bei seinem Aufenthalt in der Stadt (siehe Kasten) Antworten zu bekommen.

Das gesammelte Gesprächsmaterial wird der Theatermacher teils sogar im Originalton in die Performance einbetten, »anonym oder unter Nennung der Namen, ganz wie es die Gesprächspartner mögen.« Das Aufheben der Anonymität könne sogar soweit gehen, dass jemand seinen whatsapp- oder facebook-Kontakt bekannt gibt, und live im Rahmen der Performance - auch wenn er oder sie nicht vor Ort in Ludwigshafen am Rhein dabei ist - so virtuell mit dem dortigen Publikum in Austausch treten kann.

In der Performance wird Siegel auch mit szenischen Mitteln von seiner eigenen Reise, seiner Flucht und seiner Übersiedlung erzählen. »Vielleicht lande ich mit einem kleinen Boot vom Rhein aus Richtung Osten am Strand von Ludwigshafen bei den Menschen, dem Publikum im Westen«, schildert er seine Vision. Er wolle erzählen, wie er selbst um das Notaufnahmelager Gießen »herum kam«. Aber er will auch unbedingt andere zu Wort kommen lassen, die in Gießen zwei Tage auf ihrer Durchreise in ihrem Aufnahmeverfahren verbringen mussten. Und er will die Bewohner von Gießen von damals erzählen lassen. »Das Bild, das entsteht, lässt uns vielleicht Antworten auf Fragen finden. Und man wird assoziieren können, zu Flüchtlingen von heute, zu Lagern von heute. Womöglich«, hofft er.

Wie östlich ist der Osten heute noch?

Siegel ist sich sicher, dass in seinem Kunstprojekt auch auf folgende Fragen verschiedene Antworten gefunden werden können: Wie östlich ist der Osten heute noch? Und beginnt er immer noch an der Grenze zu Thüringen - oder wieder? Und wenn ja warum? Und warum weht der Wind aus dem Osten schon wieder so kalt herüber? Und er will auch der Frage nachspüren, ob er selbst sich jetzt als Osteuropäer oder Westeuropäer sieht. »Und ob ich mich im Falle eines hoffentlich nie eintretenden Falles, für den Osten oder für den Westen entscheiden würde.«

Boris Ben Siegel weilt vom 9. bis 11. Mai in einem Hotel in der Gießener Innenstadt und freut sich auf alle, die sich dort mit ihm treffen und ihre Geschichten zum Thema erzählen wollen. Termine vereinbaren kann man mit ihm am besten via E-Mail an borisben.siegel@theateroliv.de oder gegebenenfalls auch unter Tel. 0621/8191477.

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