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Wohnen über die Haustür hinaus

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Von: Daniel Beise

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Johanna Rockenbach, Andrea Fischer, Diana Dreßler (mit Yaro Selln), Julian Barnickel und Dominik Wittschiebe (von links) wollen mit ihrem neu gegründeten Verein »Hausprojekt Gießen« Baugrund an der Philosophenhöhe erwerben, um dort ein gemeinschaftliches Wohnkonzept zu etablieren. 	FOTO: FRIEDRICH
Johanna Rockenbach, Andrea Fischer, Diana Dreßler (mit Yaro Selln), Julian Barnickel und Dominik Wittschiebe (von links) wollen mit ihrem neu gegründeten Verein »Hausprojekt Gießen« Baugrund an der Philosophenhöhe erwerben, um dort ein gemeinschaftliches Wohnkonzept zu etablieren. FOTO: FRIEDRICH © Harald Friedrich

Seit einigen Jahren rücken gemeinschaftlichere Wohnkonzepte zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. In Gießen bewirbt sich nun der kürzlich gegründete Verein »Hausprojekt Gießen« um Baugrund an der Philosophenhöhe. Die Mitglieder möchten auf der Grundlage des »Mietshäuser Syndikats« Wohnen neu denken - generationenübergreifend und über die eigene Wohnungstür hinaus.

Ich möchte mit meinem Freund nicht in ein typisch konservatives Mietshaus ziehen, wo sich die Bewohner nicht mal grüßen.« Das sagt Johanna Rockenbach zu ihrer Motivation, sich seit rund zwei Jahren wöchentlich mit 13 anderen Personen zu treffen, um ein neues, gemeinschaftlicheres Wohnkonzept zu spinnen. Aus den Gedankenspielen ist Ende 2020 der Verein »Hausprojekt Gießen« hervorgegangen, in dem das älteste Mitglied 67 Jahre alt ist. »Es war von Anfang an klar, dass wir einen Verein gründen, weil wir in das ›Mietshäuser Syndikat‹ aufgenommen werden wollten«, erklärt Vorständin Rockenbach. Anfang des Jahres ist das gelungen.

Das »Mietshäuser Syndikat« ist in den frühen 1990er Jahren der Hausbesetzerszene entsprungen. Heute sammeln sich in der nicht kommerziellen Beteiligungsgesellschaft rund 160 Wohnprojekte, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie Gemeineigentum sind. Wie auch dadurch, dass der Wohnraum nicht an der eigenen Haustür endet (mehr Infos im Kasten).

Solidarisch und basisdemokratisch

So hat auch »Hausprojekt Gießen« seine »Vision für die Philosophenhöhe« niedergeschrieben, darin heißt es zum Beispiel: »So soll das Gebäude Raum für gemeinsame Aktivitäten und Begegnungen sowohl unter den Bewohner*innen als auch mit der Nachbarschaft in dem neu entstehenden Quartier und mit Menschen aus der Region ermöglichen.« Konkrete Ideen, wie es sie in vielen solcher Wohngemeinschaften bereits gibt, stehen ebenfalls in der Vision: Mehrzweckraum, offene Werkstatt oder ein Garten zum Spielen und Mitgestalten.

»Wir suchen nun nach Mitgliedern für den Verein, die auch wirklich mitmachen wollen«, betont die 31-jährige Ärztin. Interessenten müssen mit den politischen Grundsätzen des Vereins konform gehen: So wollen sie in einer »solidarischen und basisdemokratischen Gemeinschaft« leben, die Freiräume für alle Menschen schafft, »unabhängig von ihrer finanziellen Situation, ihrer ethnischen Herkunft, ihres Glaubens, Lebensalters, ihrer geschlechtlichen Identität oder ihrer sexuellen Orientierung«. Und weiter: »Wir verpflichten uns zu einem verantwortungsvollen, ökologischen und sozial gerechten Lebensstil und wollen Freiräume für utopische Ideen und Projekte schaffen und aktiv am Leben unserer Stadt teilhaben und mitwirken.«

Ist diese Art des Zusammenlebens wirklich neu? Hat es das nicht alles schon mal in den Kommunen der 68er-Bewegung gegeben? Jedenfalls scheint dieser Geist angesichts explodierender Mieten und Verdrängung an den Stadtrand wieder vermehrt Anhänger zu finden. Bereits 2008 hat sich in Gießen nahe dem ehemaligen Motorpool-Areal und Philosophenwald ein Wohnkonzept nach den Grundsätzen des »Mietshäuser Syndikats« etabliert: Das Projekt Wohnen (ProWo) in der Lincolnstraße fällt mit bunter Häuserfront und Garten direkt ins Auge.

Nun könnte bald ein weiteres solches Projekt entstehen. Jedenfalls hat die Stadt einen knapp 5400 Quadratmeter großen Baugrund an der Philosophenhöhe explizit für gemeinschaftliche Wohnkonzepte ausgeschrieben. Doch das Verfahren zur Grundstücksvergabe steckt noch in den Kinderschuhen, »genau genommen sind wir noch nicht in der Phase der Bewerbungen, sondern bereiten diese gerade vor«, sagt Magistratssprecherin Claudia Boje. »Es ist ein vierstufiger Prozess in Planung, die erste Phase der Einbindung vorhandener und neu entstehender Projektgruppen wird mit dem ›Runden Tisch‹ voraussichtlich im März abschließen«, sagt sie. Hier kommen die Gruppen dann zusammen, die sich Formen des kollektiven Wohnens ausdenken und um den Baugrund bewerben wollen. Da es derzeit aber noch eine Bestandsaufnahme und viel in Bewegung sei, sei es nicht sinnvoll, jetzt schon etwas über die anderen Gruppen zu sagen, erklärt Boje weiter. Die nächsten Phasen sollen voraussichtlich im Herbst zu einer Projektauswahl durch einen Beirat führen, in dem Fachleute aus dem gesamten Verfahren sitzen. Dann kann die ausgewählte Gruppe mit dem Bau beginnen.

Die Stadt prüft mehrere Konzepte

»Wir haben auf jeden Fall Lust darauf und auch schon einen Architekten an der Hand, der selbst mal in einem Gemeinschaftshaus gelebt hat«, sagt Rockenbach. Nun heißt es: potenzielle Geldgeber finden. »Es wäre schön, wenn die Stadt Wohnraum vermehrt auch mal an kleine, private Gruppen vergibt und diese damit fördert«, findet Rockenbach.

Am 8. Februar findet ein Online-Kennenlernen für Interessierte statt, Fragen können direkt an den Verein gerichtet werden: hausprojekt-giessen@ riseup.net.

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